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Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)

Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)

Titel: Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Englund
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jungen sowie den ständig präsenten russischen Kriegsgefangenen, die als Arbeitskräfte dienen. Die Männer sind entweder in der belgischen Armee oder zur Zwangsarbeit nach Deutschland oder anderswo geschickt worden. Die Deutschen versuchen, maximalen ökonomischen Gewinn aus diesem und auch anderen besetzten Gebieten herauszuziehen. Überall sieht man Frauen.
    Das müsste Kelemen eigentlich gefallen, aber er hat schnell begriffen, dass zwischen ihm und den Belgierinnen eine unüberwindliche Mauer steht. Die Zivilistinnen haben keinen Respekt vor den Besatzern und vermeiden es, sie überhaupt anzusehen. Und wenn sie aus irgendeinem Grund nach etwas gefragt oder zu etwas ermahnt werden, tun die Belgier so, als verstünden sie nichts, und ihre Blicke und Gesten sind voller Verachtung und Trotz. Mit viel Schmeichelei hat Kelemen der Frau, in deren Haus er wohnt, zu erklären versucht, dass er Ungar ist, kein Deutscher, und dass die Ungarn im Laufe der Geschichte oft gegen die Deutschen gekämpft haben. Aber die Frau hat so getan, als verstünde sie nichts. In Arlon ist ihm bereits eine «bezaubernde junge Frau» aufgefallen, und als er sie vor ein paar Tagen an einem offenen Fenster stehen sah, ist er sofort hingeritten und hat auf Französisch eine Unterhaltung begonnen. Aber kaum hatte er mit seinem Flirt angefangen, tauchte eine ältere Frau auf und zog das Mädchen vom Fenster weg. Wie sich herausstellte, war sie die Tochter des Polizeichefs der Stadt – der von den Deutschen verhaftet wurde.
    Die vierte deutsche Offensive seit Mai begann Mitte des vorigen Monats, diesmal an der Marne, aber sie scheint so verlaufen zu sein wie die früheren: erst große, schnelle Erfolge und herbe alliierte Verluste (von der deutschen Propaganda in fetten Lettern und zu den Triumphklängen von Kirchenglocken präsentiert), dann ein immer geringeres Tempo des Vormarsches infolge von Nachschubproblemen und zunehmendem Widerstand durch eilig herbeigeholte alliierte Reserven. Jetzt macht sich auch der Einsatz amerikanischer Einheiten immer deutlicher bemerkbar. Zwar kämpfen die Neuankömmlinge mit einer an Unverstand grenzenden Gleichgültigkeit gegenüber den jüngsten militärtaktischen Erkenntnissen, und sie haben entsprechend hohe Verluste erlitten – völlig unnötigerweise. Aber allein ihre große Zahl wiegt schon schwer, zumal die Deutschen mit ihren Offensiven eine Entscheidung erzwingen wollen, bevor die Amerikaner ernsthaft ins Spiel kommen. Seit drei Tagen sind die deutschen Einheiten ungefähr wieder dort, wo sie begonnen hatten.
    Arlon liegt also in der Nähe des Frontabschnittes, wo diese letzte Offensive stattfand – die österreichisch-ungarischen Einheiten sollen die deutsche Front verstärken. An diesem Tag sieht Kelemen zum ersten Mal, wie eine kleine Gruppe amerikanischer Kriegsgefangener vorbeigeführt wird. Der Anblick demoralisiert ihn. Er notiert in seinem Journal:
     
Ihre verblüffend gute physische Verfassung, die erlesene Qualität ihrer Uniformen, das dicke Leder ihrer Stiefel, Gürtel und so weiter, ihre selbstsicheren Blicke, obwohl sie Gefangene waren, das zeigte mir, was vier Jahre Krieg mit unseren Soldaten gemacht haben.
***
    Am gleichen Tag schreibt Harvey Cushing in sein Tagebuch:
     
Ich liege jetzt den dritten Tag mit einem noch nicht diagnostizierten Leiden im Bett, das ich für die spanische Grippe, ein Dreitagefieber oder was auch immer halte. Kam zurück nach zwei Tagen Herumhetzens bei Château-Thierry, ohne Essen, unterkühlt und aufgeweicht, im offenen Auto gegen ein Uhr in der Nacht. Ich fühlte mich plötzlich sehr alt, und der Chauffeur musste mir die Treppe hinaufhelfen. Meine Zähne klapperten, ich war völlig am Ende.

209.
    Samstag, 17. August 1918
    Elfriede Kuhr betrachtet in Schneidemühl einen toten Säugling
     
    Sommerdunkel. Wärme. Jetzt ist er tot, dieser Junge von sechs Monaten, der ihr Liebling war. Gestern ist der ausgemergelte Säugling in Elfriedes Armen gestorben: «Er legte einfach den Kopf, der für das Körperskelett viel zu groß aussah, an meinen Arm und war ohne Zucken oder Röcheln tot.»
    Es ist drei Uhr morgens, und Elfriede geht noch einmal hin, um den Leichnam zu betrachten. Er liegt in dem mit einem Netz bedeckten Bett, das man auf einen Flur geschoben hat, wo es ein wenig kühler sein soll. Sie hat frisch gepflückte Wiesenblumen um die kleine, dünne Leiche gelegt, aber der Anblick ist dennoch erschreckend: «Er sah zwischen ihnen zum Fürchten aus,

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