Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)
schwächer werdenden Körper und einem Geist, der sich weigert, diese Tatsache zu akzeptieren, derselbe Geist, der ihn veranlasst hat, immer wieder sein Leben aufs Spiel zu setzen, trotz miserabler Erfolgsaussichten und hoher Risiken. Pollards fieberheißer Kopf ist voller «seltsamer Einfälle».
Dann stürzt er wieder. Er versucht sich aufzurichten, fällt aber stattdessen «in einen Abgrund hinein». Seine letzte Erinnerung ist die an einen endlosen Fall.
216.
Samstag, 26. Oktober 1918
Edward Mousley wird Zeuge eines Bombenangriffs auf Konstantinopel
Gegen zwei Uhr nachmittags hört Mousley Explosionen. Flugzeuge. Er und seine Mitpatienten im Krankenhaus laufen hinaus, um besser sehen zu können. Der Himmel ist blau. Sieben Maschinen jagen über Konstantinopel hinweg, sie ziehen einen Schweif aus Detonationswolken von Luftabwehrgranaten hinter sich her. Hier und da werfen sie Bomben ab. Weiße Rauchwolken steigen über dem Gewirr von Dächern, Zinnen und Türmen auf. Mousley stellt mit Genugtuung fest, dass offenbar das Kriegsministerium getroffen wurde.
Die Flugzeuge fliegen in perfekter Formation eine Kurve (sie erinnern ihn an einen Zug von Waldschnepfen), schwenken über das Goldene Horn hinüber nach Beyoglu. Werfen ein paar Bomben auf die Galatabrücke und ein paar weitere auf die deutsche Botschaft. Dann wenden sie noch einmal und schwenken hinunter zum großen Bahnhof, der unmittelbar neben dem Krankenhaus liegt. Ein im Garten nebenan aufgestelltes Maschinengewehr eröffnet das Feuer, und sein scharfes Knattern vermischt sich mit dem Pochen der Flugabwehrgeschütze. Noch ein paar Bomben fallen. Eine von ihnen trifft eine Baracke.
Die Rauchpilze der Luftabwehr folgen den Bewegungen der Flugzeuge, aber noch ist keines von ihnen getroffen worden. Dann stellen die Geschütze das Feuer ein, und die Wolken verwehen im Wind. Ein osmanisches Flugzeug steigt auf, um die Angreifer abzuwehren. Ein paar Türken neben Mousley zeigen voller Stolz auf den einsamen Flieger. Zwei der sieben Angreifer brechen aus der Formation aus und steuern auf das osmanische Flugzeug zu. Hoch oben rattern Maschinengewehre, Augenblicke später trudelt die osmanische Maschine zur Erde. Die sieben Flugzeuge verschwinden nach Westen.
Nach einigen Stunden erfährt Mousley die Bilanz des Angriffs. Die materiellen Schäden sind gering. Ein türkischer Oberst soll getötet worden sein. Aber die psychologische Wirkung ist umso größer. Die sieben Flugzeuge haben nicht nur Bomben, sondern auch Flugblätter abgeworfen, auf denen die Erfolge und die Misserfolge der kriegführenden Parteien genau aufgelistet sind. Entscheidend aber: Das Gefühl der Unverwundbarkeit, das lange in Konstantinopel geherrscht hat, ist ein für alle Mal verschwunden. Die Stadt steht unter Schock. Mousley schreibt ins Tagebuch:
Wenn man jetzt begreift, wie schwach der Rückhalt gewesen sein muss, den die Herrschenden im Volk besaßen, als sie die Türkei durch viele Krisen hindurch im Krieg hielten, wie gleichgültig ein großer Teil der Bevölkerung dem Gedanken gegenübergestanden haben muss, überhaupt mitzumachen, und wie unwillig der gemeine Mann gewesen sein muss, für Deutschland weiterzukämpfen, dann kann man verstehen, dass Luftangriffe und Propaganda viel früher die Einsicht hätten verbreiten können, was der Krieg eigentlich bedeutete.
Später erfährt er, dass die Wut über die Angriffe sich nicht gegen die Briten gerichtet hat, die sie ausgeführt haben, sondern gegen Deutschland. In Beyoglu sind Deutsche überfallen worden, und deutsche Offiziere wurden von aufgebrachten Frauen mit Messern bedroht.
217.
Mittwoch, 30. Oktober 1918
Harvey Cushing hört, wie ein junger Hauptmann in Priez seine Geschichte erzählt
Was immer es ist, das Cushing befallen hat, er wird es nicht los. Vor zehn Tagen ließ er sich einweisen, widerwillig, obwohl er einsah, dass es nicht gut um ihn stand. Cushing war ständig schwindelig gewesen, er konnte sich nur schwer auf den Beinen halten, er hatte sogar Schwierigkeiten, die Knöpfe an seiner Kleidung zu schließen. Das Krankenhaus liegt in Priez, und er ist auf dem Wege der Besserung. Während seiner Rekonvaleszenz liest er Romane, schläft, jagt Fliegen oder röstet Brot über dem kleinen Kamin.
Aber auch wenn sein Körper noch schwach ist, so sind seine Sinne hellwach wie immer, und der Arzt in ihm kann den Mangel an Aktivität nur schwer ertragen. Unter den Patienten auf seinem Flur ist ein
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