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Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)

Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)

Titel: Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Englund
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im Sterben liege. Coppens wird hineingetragen. Während er auf die Ärzte wartet, richtet er sich auf und zwängt sich aus seiner Lederjacke. Das ist seine letzte klare Erinnerung.
    Dann verbinden sich Bewusstlosigkeit, Fieber, Äther und Chloroform zu Gedächtnisfragmenten von schwebendem, traumhaftem Charakter: Bilder von Operationssälen und weiß gekleideten Ärzten, Bilder einer großen, schlanken Gestalt, die sich über ihn beugt und einen Orden an seine Brust heftet, Bilder eines Mannes, der ihn mit gezogenem Degen grüßt und laut aus einem Kommuniqué vorliest. Und ständig dieser Durst; er begreift erst später, dass er auf seinen Blutverlust zurückzuführen war.
***
    Hinterher wird er sich mit Grausen an diese «furchtbaren Tage und endlosen Nächte» erinnern. Noch nach einer Woche ist nicht sicher, ob er überlebt. Das linke Bein wird amputiert.
     
Mein Allgemeinzustand verschlechterte sich und mein Mut sank. Ich hatte nicht mehr die Kraft, irgendwie dagegenzuhalten. Jeden Tag aufs Neue auf dem Operationstisch betäubt zu werden, zerrüttete mich nach und nach, und ich wurde – aller guten Pflege zum Trotz – ein Nervenwrack.
     
    Manchmal überfällt ihn eine Niedergeschlagenheit, die «viel zu schrecklich ist, um sie in Worte zu fassen». Die Nächte sind am schlimmsten.

215.
    Dienstag, 15. Oktober 1918
    Alfred Pollard kommt nach Péronne und wird krank
     
    Die Eisenbahnfahrt ist unangenehm. Obwohl er eine Wolldecke hat, um sich zu wärmen, friert er unablässig. Außerdem hat er fürchterliche Kopfschmerzen. Und wenn er einmal für kurze Zeit in einen unruhigen Schlaf fällt, plagen ihn «seltsame Albträume».
    Pollard ist auf dem Weg zur Front. Ein letztes Mal will er «die Spannung des Angriffs» spüren, wie er selbst sagt. Die deutsche Armee hat mit dem allgemeinen Rückzug begonnen. Das Finale scheint nahe zu sein. Aber ihn lockt nicht nur die Aufregung des Kampfes. In der Stunde der Entscheidung dabei zu sein, ist für ihn auch eine Frage der Selbstachtung.
    Im Laufe dieses Jahres hatte er verschiedene Aufgaben hinter der Front, zuletzt musste er aus all den uniformierten Nichtkämpfern im Tross und hinter den Linien die aktiven Soldaten auswählen. Auf jeden Mann im Schützengraben kommen rund fünfzehn, die verschiedene Hilfsaufgaben zu verrichten haben, etwa versorgen sie die Männer an der Front mit Vorräten und Munition. Die Verluste der britischen Armee sind so groß, dass der Mangel an Soldaten in der Kampfzone akut geworden ist. (Frankreich hat übrigens mit dem gleichen Problem zu kämpfen. In ihrer Not hat die französische Armee begonnen, zukünftige Jahrgänge von Wehrpflichtigen vorzeitig einzuberufen; man füllt die Reihen jetzt mit Siebzehnjährigen.) Die Auserwählten, die Pollard nun anleiten muss, sind jedoch alles andere als willig; es sind Leute mit leichten körperlichen Gebrechen, aber auch Kriminelle, die nur freigelassen wurden, damit sie kämpfen – unter seinen Soldaten sind nicht weniger als elf verurteilte Mörder. Pollard ist schroff und hält eine stramme Disziplin aufrecht. Er trägt eine maßgeschneiderte Uniform.
    Die Nachricht, dass sein Bataillon wieder zum Einsatz kommen soll, hat Pollard jedoch veranlasst, um die Befreiung von seinen Pflichten im Ausbildungslager zu bitten. Jetzt ist er mit der Eisenbahn unterwegs nach Péronne, wo er hofft, von jemandem aus dem Bataillon empfangen zu werden. Vor Kälte zitternd und von heftigem Fieber geschüttelt, steigt er in den frühen Morgenstunden in Peronne aus dem Zug. Aber auf dem Bahnhof ist niemand, also lässt er seinen Burschen dort, um das Gepäck zu bewachen. Die Stadt ist leer, still, verdunkelt, wirkt beinahe ausgestorben. Erst vor gut einem Monat wurde sie von australischen Truppen zurückerobert. Pollard verlässt die Stadt und macht sich, den Sternen folgend, auf den Weg Richtung Osten. Früher oder später muss er die Front erreichen. Dort wird er jemanden finden, der weiß, wo sich sein Bataillon aufhält.
    Pollards Schritte werden schwankender. Er fällt hin, kommt mühsam wieder auf die Beine. Er ist krank, er hat die Influenza, mit der sich so viele Menschen in Europa, ja, in der ganzen Welt angesteckt haben. Sie hat ihren Ursprung in Südafrika, aber man nennt sie die «Spanische Grippe» oder kurz die «Spanische».  30
    Die Landstraße wird immer schmaler. Oder sind es nur seine Beine, die nicht mehr gehorchen wollen? Es wird sein letzter Kampf sein – der zwischen einem stetig

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