Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)
Lobanov-Rostovskij gehört einem Garderegiment an, einer dieser Elitetruppen, die gern als Feuerwehr eingesetzt werden, dort, wo die Gefahr am größten ist. Wieder ist er den schlimmsten Kämpfen entgangen. Erst war er krank, in Warschau, dann hatte er mehrere Tage damit verbracht, in Züge einzusteigen oder aus Zügen auszusteigen oder mit dem Zug in die eine oder andere Richtung zu fahren, während die Generäle zu entscheiden versuchten, wo die Division eigentlich am dringendsten gebraucht wurde: «Dieses Oszillieren unserer Reiseroute zeigte, dass sich die Lage ständig veränderte.» Schließlich stiegen sie bei Lomza aus. Die Division machte sich auf den Marsch zu einer Linie nordwestlich der Stadt, die auf einer Karte eingezeichnet war. «Und wenn sich der Feind näherte, war das die Front.»
Jetzt geht es, wie gesagt, nur um ein Gefecht von «lokalem Interesse». Der Schneesturm soll dem russischen Angriff nicht im Wege stehen, er wird planmäßig eingeleitet. Wieder einmal ist Lobanov-Rostovskij Zuschauer; er ist ja Ingenieuroffizier und in Situationen wie dieser nicht gefragt. Zu sehen, wie der Krieg – oder besser: die Generalität – sich weigert, die Naturkräfte zu akzeptieren, findet er besonders erschreckend: «Das Geräusch der Artillerievorbereitungen und des Mündungsfeuers der Kanonen mischte sich mit dem heulenden Wind und dem wirbelnden Schnee.» Die Verluste sind ungewöhnlich hoch, auch am Maßstab dieses Kriegs gemessen, denn die meisten Verwundeten erfrieren noch an der Stelle, wo sie zu Boden gegangen sind. Und die Verletzten, die den Wind und den Schnee und die Minusgrade trotz allem überleben, erleiden oft schwere Erfrierungen. Die Lazarette füllen sich mit Krüppeln.
Andrej Lobanov-Rostovskij fühlt sich nicht besonders gut. Vor allem setzt ihm das Warten hinter der Front zu. Er findet die Passivität «sehr deprimierend». Die Monotonie wird nur unterbrochen, wenn deutsche Flugzeuge kommen und ein paar Bomben werfen, meist in der Dämmerung oder spät am Abend.
31.
Freitag, 5. März 1915
Herbert Sulzbach macht bei Ripont eine Rechnung auf
Es sind jetzt zehn Wochen vergangen. Zehn Wochen fast ununterbrochener Kämpfe. Bald wird dieses Geschehen einen Namen erhalten: «Die Winterschlacht in der Champagne». Die Front hat sich kaum bewegt.
Die Liste der Verwundeten und Gefallenen wird immer länger. Bode ist tot. Fabian auch – er war der Jüngste der Freiwilligen, nur siebzehn Jahre alt. Unter den Verwundeten ist der Geschützzugführer, der geliebte Fähnrich Reinhardt. Einer von Sulzbachs Freunden hatte einen Nervenzusammenbruch. Und an diesem Tag wird ein anderer Freiwilliger getötet, Zobel. Sulzbach bemerkt jedoch, dass, auch wenn sie natürlich um jeden gefallenen Kameraden trauern, etwas mit ihren Gefühlen geschehen ist. Sie sind nicht mehr so aufgewühlt, nicht mehr so betroffen, wenn wieder mal ein lehmverschmierter Körper weggetragen wird. Sie sind inzwischen abgestumpft. Keiner weint mehr. Vielleicht ist das unvermeidlich.
Eine Kluft tut sich auf zwischen dem Erwarteten und dem Erlebten. Sulzbach schreibt in sein Tagebuch:
Man kann ja nur kurze Notizen machen, hat keine Zeit zu langen Betrachtungen und kann den zu Haus’ Gebliebenen, wenn man ihnen später diese Kriegstagebücher zu lesen gibt, doch niemals eine wirkliche Vorstellung von dem machen, was wir erleben und aushalten und von welchem Willen und welchem Geist jeder einzelne beseelt ist.
Dass sein Freund Kurt Reinhardt sich der Batterie wieder angeschlossen hat, ist seine Rettung. Sie haben sich viel zu erzählen.
Die Intensität der Kämpfe lässt sich auch statistisch belegen. Während der Schlachten in Flandern hat die Batterie 3200 Granaten verschossen. Jetzt, in der Champagne, in ungefähr der halben Zeit, hat sie 17 200 abgefeuert. Alle hoffen, dass sie bald abgelöst werden.
32.
Sonntag, 7. März 1915
Kresten Andresen zeichnet in Cuy einen Esel
Der Feldgeistliche hat sie in seinen Predigten dazu beglückwünscht, in dieser ereignisreichen Zeit zu leben. Dann sangen sie «Ein feste Burg ist unser Gott», aber die zweite Strophe ließen sie aus, da sie als Ausdruck des Zweifels an der Kraft der Waffen gedeutet werden könnte. 12 Die letzten Monate waren seltsam. Es gab nur wenige Kämpfe, und die nur weit entfernt. Seit er an der Front ist, hat Andresen ganze drei Schüsse abgegeben, und er ist ziemlich überzeugt, dass alle drei irgendwo in den Hindernissen vor ihrer
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