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Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)

Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)

Titel: Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Englund
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die Tatsache, dass man keine Bäume sehen kann. Auch keine Vögel. Er hatte zumindest Raben oder Geier oder andere Aasfresser erwartet, denn gegen Ende seiner Reise hat er die Überreste der großen Katastrophe bei Sarikamis gesehen, Tausende steif gefrorene Kadaver von Pferden und Kamelen. «Es muss schon ein wirklich elendes Land sein, wenn selbst die Raubvögel es meiden.»
    Und doch bereut er es keineswegs, hier zu sein.
    Als im August der Krieg ausbrach, zogen viele auf langen und umständlichen Wegen nach Europa, um daran teilzunehmen. Vielleicht zählte Rafael de Nogales’ Weg zu den längsten, zumindest war er ziemlich umständlich. Wenn jemand den Titel «Weltabenteurer» verdient, dann er. Geboren in Venezuela und aus einer Familie von Konquistadoren und Freibeutern stammend (sein Großvater hatte für die Unabhängigkeit des Landes gekämpft), war er in Deutschland aufgewachsen und ausgebildet worden, zugleich aber wurde er von einer unbändigen Abenteuerlust getrieben.
    Rafael Inchauspe de Nogales Méndez ist weder vom rauschhaften Nationalismus noch von den semiutopischen Phantasien berührt, die Millionen Menschen zu dieser Zeit erfassten. Er muss auch nichts mehr beweisen, weder sich noch den anderen. Furchtlos, ungeduldig und unbekümmert, führt er schon seit langem eine rastlose Existenz. So kämpfte er im Spanisch-Amerikanischen Krieg 1898, nahm auf der falschen Seite am Umsturz in Venezuela 1902   teil und war deshalb zur Flucht aus dem Land gezwungen. Er war Freiwilliger im Russisch-Japanischen Krieg (wo er verwundet wurde); er hat in Alaska Gold gewaschen (er zählt sich zu den Gründern der Stadt Fairbanks) und in Arizona als Cowboy gearbeitet. Rafael de Nogales ist jetzt sechsunddreißig Jahre alt, energisch, charmant, stolz, hartgesotten, gebildet, dunkelhaarig und klein gewachsen, mit einem ovalen Gesicht, abstehenden Ohren und engstehenden Augen. Äußerlich erinnert de Nogales an einen lateinamerikanischen Hercule Poirot: Er ist stets gut gekleidet und trägt einen kleinen, sehr sorgfältig gestutzten Schnurrbart.
    Als er Nachricht vom Krieg erhielt, nahm er sofort ein Postschiff nach Europa. Auf verschlungenen Wegen erreichte er schließlich Calais, dort wimmelte es von Flüchtlingen, vor allem Frauen und Kindern, die die «sentimentalen Stücke» ihrer restlichen Habe mit sich trugen. Immer wieder zogen Soldatentrupps oder eine ratternde Artilleriebatterie durch die Straßen. Auch kamen ihnen Automobile mit Verwundeten in verschiedenen Uniformen entgegen: «Eine Schlacht schien stattzufinden, Gott weiß wo.» Er erinnerte sich besonders an zwei Geräusche. Zum einen das bedrohliche Brummen der Flugzeuge, die dann und wann «stahlhart, adlergleich» über ihren Köpfen kreisten. Zum anderen das unablässige Klappern, das entsteht, wenn Tausende Menschen in Holzschuhen sich über Kopfsteinpflaster bewegen. Alle Hotels waren überfüllt. De Nogales musste die erste Nacht in einem Sessel schlafend verbringen.
    Weil er in Deutschland aufgewachsen war, neigte er dazu, für die Mittelmächte Partei zu ergreifen, aber die Nachricht, dass die kaiserliche Armee in eines der kleinsten Nachbarländer eingefallen war, hatte ihn bewogen, «meine persönlichen Sympathien zu opfern und meine Dienste dem heroischen Belgien anzubieten». Was sich als schwierig erwies. Denn das kleine, heroische Belgien sagte höflich nein danke, weshalb er sich an die französischen Behörden wandte, die ihm ebenfalls den Eintritt in die reguläre Armee verwehrten, worauf er den Rat erhielt, es doch mit Montenegro zu versuchen. Das Ganze endete damit, dass er dort auf einem Berg verhaftet wurde, als Spion. Auch serbische und russische Behörden wiesen ihn ab, wenngleich auf die denkbar höflichste Art und Weise. Der russische Diplomat, den er in Bulgarien traf, schlug vor, er könne es ja mit Japan versuchen … Als Nogales kurz darauf die prächtige Eingangshalle der russischen Botschaft in Sofia betrat, war er mit den Nerven am Ende.
    Rafael de Nogales wusste in diesem Moment nicht, was er tun sollte. Nach Hause zurückzufahren war keine Alternative. Ebensowenig konnte er bleiben «und nichts tun, was für mich den Untergang bedeuten würde». Eine zufällige Begegnung mit dem türkischen Botschafter in Sofia entschied die Sache: De Nogales beschloss, sich einfach von der Gegenseite anwerben zu lassen. Anfang Januar wurde er in die türkische Armee aufgenommen, drei Wochen später verließ er Konstantinopel  13 , um

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