Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)
Stellung hängengeblieben sind. Manchmal, wenn es sehr ruhig war, empfand er die Situation als seltsam unwirklich.
Vielleicht ist es gerade diese Ruhe, die ihm in der letzten Zeit das Gefühl – denn es ist vor allem ein Gefühl – vermittelt, dass sich das Ganze auf unergründliche Weise seinem Ende nähert? Andresen phantasiert jedenfalls viel vom Frieden. Er hat auch seltsame Träume gehabt, wie gestern Nacht: Er träumte, dass er sich in seinem besten Konfirmationsanzug auf den Straßen Londons bewegte und dann plötzlich in das Haus seiner Kindheit versetzt wurde, wo er den Mittagstisch deckte.
Vogelgesang, ein Himmel, der sich warm und blau über eine Landschaft wölbt, in der all das trockene Gelbbraune eine Grünfärbung bekommen hat. Der Frühling hat die Picardie erreicht. Die Krokusse blühen, im Wald knospen Veilchen und Calla, und zwischen den frischen Ruinen hat Andresen Christrosen und Schneeglöckchen entdeckt. Es ist normalerweise die Zeit zum Säen, aber nicht hier und jetzt. Zwar hört Andresen gerade das Geräusch einer dampfgetriebenen Dreschmaschine, die irgendwo in einer abseitigen Dorfstraße rattert und stampft, aber das Getreide, das die Maschine ausspuckt, wird nicht diesem französischen Bauern zugute kommen; dem ist es sogar verboten, seinen eigenen Acker zu pflügen, ein Verbot, das bittererweise zu einem Zeitpunkt verkündet wurde, da er bereits eine große Menge gesät hatte.
Andresen hat aufrichtiges Mitgefühl mit dem Teil der französischen Zivilbevölkerung, der noch in den Dörfern gleich hinter der Kampflinie ausharrt. Deren Ernährung ist
enorm eintönig. Der Bürgermeister gibt ihnen ein paar runde Brotlaibe, groß wie normale Schubkarrenräder, halb aus Weizen und halb aus Roggen. Meist essen sie es trocken, manchmal mit einem Stückchen Fleisch oder ein paar gebratenen Kartoffeln dazu. Im übrigen leben sie von Milch, oder auch von Bohnen und Rüben.
Da er selbst einem ländlichen Milieu entstammt, fällt es Andresen leicht, das Elend der französischen Bauern zu verstehen, während er gleichzeitig die gedankenlose Verschwendung, die zum Alltag des Krieges gehört, unerträglich findet. Am Anfang ihres Aufenthaltes betteten sie sich Nacht für Nacht auf neuem, ungedroschenem Weizen, und drüben in dem zerschossenen Lassigny sind manche Straßen mit einer dicken Schicht von ungedroschenem Hafer bedeckt, den man dort ausgebreitet hat, um das Poltern der Wagenräder zu dämpfen.
Vielleicht ist es auch der Bauer in ihm, der ihn veranlasst, Zuneigung zu dem kleinen Esel Paptiste zu fassen, der auf einem der Höfe in Cuy gehalten wird. Seine Liebe wird durchaus nicht erwidert. Das Tier stößt Grunzlaute aus, wenn jemand in die Nähe kommt, und macht Anstalten auszuschlagen. Andresen findet den Esel in seiner Dummheit und naturgegebenen Faulheit jedoch unwiderstehlich komisch, und an diesem Sonntag nimmt er die Gelegenheit wahr, ein kleines Porträt von ihm zu zeichnen, wie er dort auf dem Hofplatz steht und die warme Frühlingssonne genießt. Wenn die Zeichnung fertig ist, will er sie nach Hause schicken.
Der Esel ist nicht seine einzige Bekanntschaft im Ort. In Cuy hat er auch zwei französische Frauen kennengelernt, eine blonde und eine dunkelhaarige. Sie sind aus einem Dorf in der Nähe geflüchtet, das plötzlich im Niemandsland liegt. Vermutlich ist die Bekanntschaft dadurch erleichtert worden, dass er Däne und kein Deutscher ist. Die dunkelhaarige Frau hat eine elfjährige Tochter, Suzanne, genannt Sous, und sie nennt Andresen «Kresten le Danois». Ihre Mutter hat seit Ende August keinen Kontakt mehr mit ihrem Mann gehabt. «Sie ist sehr schwermütig.»
Neulich fragten sie mich, wann wieder Friede sein werde, aber das wusste ich ebensowenig wie sie. Ich tröstete sie, so gut ich konnte; sie weinten über das ganze Elend. Sonst sieht man sie selten weinen, obwohl sie allen Grund dazu haben.
Andresen hat der dunkelhaarigen Frau geholfen, an das Hilfsbüro des Roten Kreuzes in Genf zu schreiben, um Informationen über ihren vermissten Mann zu erhalten. Er hat Sous auch eine Puppe geschenkt, getauft auf den Namen Lotte, die das Mädchen in einer leeren Zigarrenschachtel fröhlich mit sich herumträgt. Er will versuchen, ihr einen Puppenwagen zu bauen.
33.
Freitag, 12. März 1915
Rafael de Nogales trifft in der Garnison in Erzurum ein
Was ihn auf dem langen und beschwerlichen Marsch über die schneebedeckten Berge am stärksten beeindruckt, ist
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