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Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)

Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)

Titel: Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Englund
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zwei Tagen mit dem Bus vom Gare d’Orléans über den Fluss und am Place de la Concorde vorbei nach Neuilly fuhren, wo das Krankenhaus wartete. Neugierig, ja gierig hatte er die Straßen der Stadt beobachtet. Grau waren alle Militärfahrzeuge, im gleichen uniformen Ton gestrichen: Stabswagen, Krankenwagen, Panzerwagen; schwarz all die Trauernden («Alle, die nicht in Uniform sind, scheinen Schwarz zu tragen»); rot waren die Hosen der Soldaten und die Kreuze der Krankenhäuser und der Krankenwagen. Sein Name ist Harvey Cushing, amerikanischer Arzt aus Boston, und er ist nach Frankreich gekommen, um Kriegschirurgie zu studieren. In einigen Tagen wird er sechsundvierzig Jahre alt.
    An diesem Tag befindet sich Cushing am Lycée Pasteur in Paris – oder wie es jetzt heißt: Ambulance Américaine  16 . Es ist ein privates Militärkrankenhaus, bei Kriegsausbruch von in Frankreich lebenden Amerikanern eingerichtet und mit Hilfe verschiedener Sammlungen finanziert. Die Menschen, die dort arbeiten, stammen hauptsächlich aus den USA, es sind Freiwillige von verschiedenen Medizinischen Fakultäten, die hier für drei Monate Dienst tun. Manche sind aus rein ideellen Gründen gekommen, andere, wie Cushing, von beruflichem Interesse geleitet. Hier kann man nämlich Verwundungen eines Typs behandeln, wie er in den neutralen und von der Weltpolitik abgeschirmten USA fast nie vorkommt. Und da Harvey Cushing Gehirnchirurg ist, noch dazu ein ungewöhnlich tüchtiger  17 , hofft er natürlich, im Krieg führenden Frankreich vieles lernen zu können. Er hat, was den Krieg betrifft, eigentlich keine klare Stellung bezogen. Als besonnener, gebildeter Zeitgenosse behandelt er die vielen Schauergeschichten über die Deutschen mit einer gewissen ironischen Skepsis. Er glaubt, hohles Pathos durchschauen zu können. Harvey Cushing ist blass, klein und dünn. Sein Blick ist musternd, der Mund klein und zusammengepresst. Er vermittelt den Eindruck eines Mannes, der es gewohnt ist, seinen Willen durchzusetzen.
    Gestern, am Karfreitag, war sein erster richtiger Arbeitstag im Krankenhaus. Cushing hat sich bereits vorab ein Bild von seiner Aufgabe gemacht. Er hat die Verwundeten getroffen, oft geduldige und schweigsame Männer mit versehrten Körpern und schweren Verwundungen. Aus diesen Wunden werden nicht nur Kugeln und Granatsplitter entfernt, sondern auch das, was man in der Fachsprache Sekundärprojektile nennt: Stofffetzen, Steine, Holzstücke, Patronenhülsen, Ausrüstungsteile, Fragmente von Körperteilen. Einige der größten Problemfälle hat er schon gesehen. Zuerst die vielen Soldaten mit schmerzenden, blaugefrorenen und nahezu verkrüppelten Füßen – offenbar haben die Männer tagein, tagaus in kaltem, schlammigem Wasser gestanden (der Begriff «Schützengrabenfuß» ist noch nicht geprägt). Dann die Simulanten und jene, die aus Scham oder Eitelkeit die Schwere ihrer Verletzungen übertreiben. Außerdem die «Souvenirchirurgie» – wenn die Ärzte unnötigerweise Projektile herausoperieren, weil die Soldaten darauf bestehen, die Kugeln oder Granatsplitter mitzunehmen, um sie zu Hause als Trophäen präsentieren zu können.
    Heute ist Ostersamstag. Das kalte, aber klare Frühlingswetter der ersten Tage ist einem Dauerregen gewichen.
    Den Vormittag nutzt Cushing, um durch die halbvollen Säle zu schlendern und die aus neurologischer Sicht interessantesten Fälle aufzulisten. Da es nur wenige ernsthafte Schädelverletzungen gibt, nimmt er auch verschiedene Arten von Nervenleiden auf. Die Patienten kommen fast ausschließlich von den südöstlichen Frontabschnitten. Die allermeisten sind Franzosen, dazu schwarze Kolonialsoldaten  18 , ein paar Engländer. Die Letztgenannten werden in der Regel zu Krankenhäusern am Ärmelkanal oder weiter nach Hause gebracht. Allmählich nimmt seine Liste Gestalt an:
     
Elf Fälle von Nervenschäden an den oberen Gliedmaßen, von kleinen Handverletzungen bis zu Wunden am Plexus brachialis; fünf davon Rückenmuskelparalyse mit komplizierteren Frakturen. Zwei schmerzhafte Nervenschäden am Bein; Tauer hat diese mit Knochennaht operiert.
Drei Gesichtslähmungen. Bei einem war ein Granatsplitter von Handflächengröße in die Wange gedrungen, den er stolz vorzeigte. Eine Zervikallähmung im sympathischen Nervensystem bei einem Mann, dem ein Schuss durch den offenen Mund gegangen war. Zwei gebrochene Rückgrate, der eine liegt im Sterben, der andere erholt sich. Ein Balken, der den Schutzraum

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