Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)
gehalten hatte, war auf ihn herabgefallen, als eine in der Nähe explodierende Granate den Abschnitt [des Schützengrabens] zerstörte, in dem er sich gerade befand. Nur eine einzige ernsthafte Hirnverletzung; es handelt sich bei diesem um einen gewissen Jean Ponysigne, der vor fünf Tagen in den Vogesen verwundet und anschließend auf unergründliche Weise im Krankenwagen hierhergebracht wurde.
Beim Mittagessen erzählt ihm einer der Sanitäter, wie er vor zwei Tagen einen Veteranen des Krieges 1870/71 ohne Beine gesehen habe, der sich, auf seine Krücken gestützt, aufgerichtet habe, um einem fünfundvierzig Jahre jüngeren Mann seine Ehrenbezeugung zu machen, einem der Opfer des gegenwärtigen Konflikts, auch dieser Mann ohne Beine. Am Nachmittag besucht Cushing die Abteilung für Zahnchirurgie und ist beeindruckt von den neuen effizienten Behandlungsmethoden. «Es ist großartig zu sehen, wie es ihnen gelungen ist, einem armen Teufel, dem große Teile des Gesichts weggeschossen wurden, Zähne und Kiefer wieder einzusetzen.»
36.
Freitag, 9. April 1915
Angus Buchanan wartet in Waterloo Station auf einen Zug
Noch ein Regentag. Als die Dämmerung über London hereinfällt, wirkt die Stadt ungewöhnlich grau und feucht. Er wartet seit sechs Uhr abends auf Bahnsteig sieben, und noch ist von ihrem Zug nichts zu sehen. Der Bahnsteig ist voller Menschen, nicht nur Männern in khakifarbenen Uniformen, sondern auch zahlreichen Zivilisten: Verwandte und Freunde, die zur Waterloo Station gekommen sind, um sie zu verabschieden. Das Wetter mag trist sein, aber die Stimmung unter den Wartenden, die dort in Gruppen zusammenstehen und plaudern, ist prächtig.
Die auf dem Bahnsteig versammelten Männer sind der Hauptteil eines Freiwilligenbataillons, der 25 th Royal Fusiliers, die nun ihre lange Reise nach Ostafrika antreten. Man weiß schon, dass es für europäische Einheiten nicht ganz einfach ist, in diesem Teil Afrikas zu operieren, aber der größte Teil der Uniformierten hat bereits Erfahrung mit heißem Klima oder extremen Bedingungen. Diese «Legion von Pfadfindern und Grenzgängern» stammt aus so unterschiedlichen Ländern wie Hongkong, China und Ceylon, Malakka, Indien und Neuseeland, Australien, Südafrika und Ägypten; unter ihnen finden sich ehemalige Polarfahrer und Ex-Cowboys. Als der Krieg ausbrach, war Angus Buchanan gerade weit im Norden der kanadischen Wildnis, um Exemplare der arktischen Flora und Fauna zu sammeln, und hörte deshalb erst Ende Oktober von den Ereignissen. Er war daraufhin sogleich nach Süden gereist, die erste größere Siedlung erreichte er um Weihnachten, zog aber sofort weiter, mit dem Ziel, sich zur Armee zu melden.
Buchanans Kompanie wird von dem erfahrenen Großwildjäger Frederick Courtney Selous geführt, der sich mit zwei populären Afrikabüchern einen Namen gemacht hat. 19 Selous ist so etwas wie das Sinnbild des klassischen viktorianischen Entdeckungsreisenden: unerschrocken, optimistisch, rücksichtslos, unschuldig, stark und neugierig. Er trägt einen kurzen weißen Bart und ist vierundsechzig Jahre alt, bewegt sich aber mit der Leichtigkeit eines Dreißigjährigen. (Das Bataillon hat eine großzügige obere Altersgrenze von achtundvierzig Jahren, aber nicht wenige der Männer sind älter und haben offenbar bei ihrer Altersangabe geschwindelt – so groß ist der Eifer noch.) 20
Das Bataillon hatte von Beginn an den Ruf, ein Eliteverband von Abenteurern zu sein. Unter den Wartenden auf dem Bahnsteig befinden sich sogar einige, die aus anderen Verbänden desertiert sind, nur um sich den 25 th Royal Fusiliers anschließen zu können. Sie sind der einzige Verband im gesamten britischen Expeditionskorps, der keine formelle militärische Ausbildung durchlaufen hat; die Männer gelten als so erfahren, dass dergleichen als überflüssig, ja beinahe als eine Beleidigung dieser gentlemen adventurers betrachtet wird. Nicht verwunderlich also, dass an diesem Abend ein «spirit of romance» 21 in der Luft liegt.
Einigen dieser ausgeprägten Individualisten fällt es schwer, ihre – sonst so offensichtliche – Eigenart unter einer Uniform zu verbergen. Der achtundzwanzigjährige Angus Buchanan ist Naturkenner, Botaniker und Zoologe, auf Vögel spezialisiert. Wenn ihm die Zeit dafür bleibt, will er Exemplare der Flora und Fauna Ostafrikas sammeln.
Die Stunden vergehen. Immer noch ist das Geraune und Gelächter der vielen Menschentrauben zu hören. Gegen elf
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