Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)
Zeit frenetisch zu, dass wir beschossen werden. Als ob wir das nicht merkten.
So geht es weiter. Dawkins und seine Männer rennen zwischen den Garben von Kartätschenkugeln vor und zurück, graben, bohren, verlegen Leitungen. Zwei seiner Leute werden verwundet: einer am Ellenbogen, einer an der Schulter. Ein Zündrohr von einer Granatkartätsche trifft seinen Stiefel, verletzt ihn aber nicht. Gegen zehn Uhr am Abend hört er von den Höhen gleich hinter dem Strand das Knattern intensiven Gewehrfeuers – «ein prachtvolles Geräusch» –: ein türkischer Gegenangriff. 34 Die ganze Zeit sickert ein dünner, aber ununterbrochener Strom Verwundeter von der hohen Steilküste herunter. Er sieht einen verwirrten Oberst, der offenbar einen Schock erlitten hat und das Feuer gegen Anhöhen befiehlt, die von eigenen Truppen gehalten werden. Dawkins hilft beim Entladen der Munition von einer Transportschute.
«Todmüde» legt er sich gegen neun Uhr am Abend schlafen. Schon nach eineinhalb Stunden wird er von einem Major geweckt, der berichtet, die Lage sei kritisch. Den Rest der Nacht hilft Dawkins mit, Verstärkungen und Munition zur hart bedrängten Infanterie in der vordersten Linie zu schaffen. Die Schießerei hält die ganze Nacht an. Gegen vier Uhr in der Frühe legt Dawkins sich wieder hin.
40.
Samstag, 1. Mai 1915
Florence Farmborough hört, wie die Front bei Gorlice einbricht
Wie für Millionen andere Menschen war der Abschied auf dem Bahnhof für Florence die großartigste Erfahrung überhaupt; für die meisten blieb es während des langen Krieges auch das einzig Erhabene. Auf dem Bahnsteig des Alexander-Bahnhofs in Moskau hatte großes Gedränge geherrscht. Man hatte die russische Nationalhymne gesungen, Segnungen und Mahnungen ausgesprochen, Umarmungen und Glückwünsche ausgetauscht, Blumen und Schokolade verteilt. Dann war der Zug losgefahren, vorbei an donnernden Hurrarufen, winkenden Händen und Gesichtern, die Hoffnung und Ungewissheit ausdrückten. Sie selbst war von «wilder Heiterkeit» erfüllt gewesen: «Wir waren unterwegs, unterwegs zur Front! Ich war so überwältigt vor Freude, dass ich kaum sprechen konnte.»
Jetzt ist sie mit ihrer Einheit in Gorlice stationiert, einem kleinen Bezirksstädtchen in Österreichisch-Galizien, das seit über einem halben Jahr von russischen Truppen besetzt ist. Gorlice liegt sehr nahe an der Front. Die Stadt wird Tag für Tag von der österreichischen Artillerie beschossen, auf eine etwas planlose Weise, gleichsam mehr aus Prinzip. Es scheint sie nicht besonders zu kümmern, dass die meisten Opfer ihres Beschusses wie sie selbst Untertanen des Kaisers in Wien sind. Der Turm der großen Kirche ist in der Mitte gespalten. Viele Häuser liegen in Trümmern. Vor dem Krieg hatte die Stadt 12 000 Einwohner, jetzt sind es nur ein paar Tausend, die nicht weggezogen sind, und sie haben sich zumeist in ihren Kellern verkrochen. Bisher hatten Farmborough und die anderen im Feldlazarett vor allem damit zu tun, die Not der Zivilbevölkerung zu lindern, in erster Linie, indem sie Essen verteilten. Die Lebensmittel sind knapp. Die Landschaft ist angenehm frühlingsgrün.
Das mobile Feldlazarett Nr. 10 besteht aus drei Teilen, zwei fliegenden Einheiten, die leicht dorthin zu verlegen sind, wo sie am dringendsten gebraucht werden; zu ihnen gehören jeweils ein Offizier, ein Unteroffizier, zwei Ärzte, ein Assistenzarzt, vier männliche und vier weibliche Krankenpfleger, dreißig Sanitäter, zwei Dutzend zweirädrige Ambulanzwagen, die von Pferden gezogen werden und auf der Plane mit einem roten Kreuz bezeichnet sind, und ebenso viele Kutscher und Stallburschen. Der dritte Teil ist eine Basiseinheit mit weiteren Pflegeplätzen, wo Vorräte aufbewahrt werden und auch zusätzliche Transportmöglichkeiten zur Verfügung stehen, nicht zuletzt in Form von zwei Automobilen. Florence gehört zu einer der beiden fliegenden Einheiten. Sie haben ein provisorisches Lazarett in einem verlassenen Haus eingerichtet, das sie zuvor gesäubert und angestrichen haben; dort gibt es nun einen Operationssaal und eine Apotheke.
Gorlice liegt, wie gesagt, an der Front, am Fuße der Karpaten, und täglich fallen Granaten zwischen die Häuser. Trotzdem ist es seit längerem ein ruhiger Abschnitt, und bei den russischen Militärs hat sich eine gewisse Gleichgültigkeit eingeschlichen. Das zeigt sich etwa an der vordersten Linie. Befestigungen der stabilen Art, wie an der erstarrten
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