Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)
Kämpfe. Keine der beiden Seiten macht Gefangene. Während seiner ganzen Zeit in Van wird de Nogales nur drei lebende Armenier aus der Nähe sehen: einen Diener, einen Übersetzer und einen Mann, der in einem Brunnen gefunden wurde, wo er neun Tage gesessen hat, nachdem er aus irgendeinem Grund die Seinen verlassen hat – er wird verhört und versorgt, bis er sich ein wenig erholt hat, und dann «ohne weiteres Aufheben» erschossen. Die Grausamkeiten sind letztlich auch eine Konsequenz der Tatsache, dass die meisten Beteiligten keine regulären Soldaten sind, sondern Eiferer, Freiwillige, Zivilisten, die plötzlich Waffen und damit die Gelegenheit bekommen, alte Kränkungen zu rächen (reale oder eingebildete) und zukünftige (reale oder eingebildete) zu verhindern. Bei den Truppen, die de Nogales befehligt, befinden sich kurdische Kriegerscharen, örtliche Gendarmen, türkische Reserveoffiziere, tscherkessische ashiretes und Räuberbanden. 29
Der Krieg bietet Vorwände, schafft Gerüchte, blockiert den Fluss der Nachrichten, vereinfacht das Denken, normalisiert die Gewalt. Fünf Bataillone mit armenischen Freiwilligen kämpfen auf Seiten der Russen, man will sie aufwiegeln gegen die osmanische Herrschaft. Bewaffnete Gruppen von armenischen Aktivisten führen auch Sabotageakte und kleinere Überfälle durch. Und schon seit Ende des Jahres 1914 ist es immer wieder vorgekommen, dass unbewaffnete Armenier Massakern zum Opfer gefallen sind, als blinde Vergeltung für Taten dieser Aktivisten, als Warnung an andere Armenier oder als Rache für Niederlagen an der Front. 30 Oder schlicht, weil es möglich ist, dies zu tun. Durch die letzten Massaker hat der lokale türkische Befehlshaber gerade den großen Aufruhr ausgelöst, den die Aktionen hätten verhindern sollen.
Rafael de Nogales hat schon die Gerüchte vernommen, die Befürchtungen gehört und die Spuren gesehen (Flüchtlinge, ausgebrannte Kirchen, Haufen von verstümmelten armenischen Leichen am Straßenrand). Ja, in einer kleinen Stadt auf dem Weg nach Van hat er mit eigenen Augen gesehen, wie der Mob eineinhalb Stunden lang die armenischen Männer des Ortes jagte und erschlug, bis auf sieben, die er eigenhändig mit gezogener Pistole rettete. 31 Der Vorfall hat ihn unangenehm berührt, gewiss. Hier in Van jedoch ist die Lage eine andere. Er ist Offizier in der osmanischen Armee und hat einen bewaffneten Aufstand zu unterdrücken. Und das schnell, bevor der Damm bei Kotur Tepe bricht. Außerdem mag de Nogales die Armenier nicht. Er bewundert zwar ihre Treue zu ihrem christlichen Glauben, hält sie aber ansonsten generell für verschlagen, gierig und undankbar. (Seine Begeisterung für Juden und Araber hält sich übrigens auch in Grenzen. Türken zu mögen, fällt ihm dagegen leicht: «die Gentlemen des Orients». Und Kurden respektiert er, obwohl er sie für unzuverlässig hält. Er nennt sie eine «junge und vitale Nation».)
Die Aufgabe, Van zu bezwingen, ist schwierig. Die Armenier wehren sich mit dem wilden, verzweifelten Mut derer, die wissen, dass die Niederlage zugleich den Tod bedeutet. Gleichzeitig sind viele der Freiwilligen in de Nogales’ Verband undiszipliniert, unerfahren, eigensinnig und zum Teil im richtigen Kampf völlig unbrauchbar. Zu allem Überfluss ist das alte Van ein Labyrinth aus Basaren, engen Gassen und Häusern mit Lehmwänden, ebenso unüberschaubar wie undurchdringlich. Die Kontrolle der Stadt ist deshalb vor allem der osmanischen Artillerie übertragen worden. Zwar gehören die meisten Geschütze, uralte Vorderlader, die Kugeln verschießen, 32 ins Museum, doch de Nogales hat entdeckt, dass diese groben Kugeln praktisch eine größere Wirkung haben als moderne Granaten, die eine Lehmwand oft einfach durchschlagen und durch die nächste wieder hinausfliegen.
So sprengt man sich durch das Gewirr von Straßen und Gassen der Stadt, Viertel um Viertel, Haus um Haus – «mit schweißverklebten Haaren und pulvergeschwärzten Gesichtern, halb taub vom Knattern der Maschinengewehre und dem Krach aus nächster Nähe abgefeuerter Gewehre». Wenn ein Haus zu einer Ruine geschossen ist und nur noch Leichen übrig sind, zündet man die Überreste an, um zu verhindern, dass die Armenier im Schutz der Dunkelheit zurückkehren. Tag und Nacht hängen die Rauchsäulen über der Stadt.
Während seines Ritts entlang dem östlichen Sektor entdeckt de Nogales eine Feldkanone, die gerade unter den Trümmern eines eingestürzten Hauses
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