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Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)

Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)

Titel: Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Englund
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Front im Westen inzwischen die Regel, sind hier nicht zu sehen.  35 Die Schützengräben sind vielmehr flache und etwas schlampig ausgehobene Anlagen, die eher niedrigen Wällen gleichen, geschützt durch ein paar dünne Reihen Stacheldraht. Während des Winters war es natürlich schwierig, sich tiefer in die Erde hineinzuarbeiten, aber auch jetzt, wo der Frost aus dem Boden gewichen ist, sind die Erdarbeiten nicht recht in Gang gekommen, teils aus Faulheit, teils weil es an Spaten fehlte.
    Die russische Artillerie beantwortet nur selten das planlose Bombardement der Österreicher. Es heißt, es mangele an Munition, aber weiter hinten bei den Vorräten gibt es genug Granaten. Die Bürokraten in Uniform, die diese Dinge verwalten, halten sie gern unter Verschluss, in Erwartung größerer Ereignisse. Die russische Armee plant tiefer im Süden eine neue Offensive, gegen die berühmten Pässe in den Karpaten (die Tore nach Ungarn!), die seit den harten, aber unergiebigen Kämpfen des Winters von Leichen gesäumt sind; dort werden die Ressourcen dringender gebraucht. Die Frage ist aber, ob das wirklich stimmt. Seit einigen Tagen verbreitet sich unter den russischen Truppen bei Gorlice Unruhe, und es geht das Gerücht, dass die Österreicher auf der anderen Frontseite durch deutsche Infanterie und schwere Artillerie verstärkt worden sind.
    An diesem Samstag werden Florence und die anderen im Lazarett schon vor Anbruch der Dämmerung von schwerem Artilleriefeuer geweckt.
    Sie taumelt aus ihrem Bett. Zum Glück hat sie in voller Kleidung geschlafen. Alle – außer vielleicht Radko-Dimitriev, der Oberbefehlshaber der russischen 3. Armee – haben geahnt, dass sich etwas zusammenbraute. Die Explosionen in unterschiedlicher Stärke und Tonart werden dichter, als die ringsum postierte russische Artillerie das Feuer erwidert. Die Kugeln explodierender Schrapnells rasseln auf Straßen und Dächer.
    Durch die klappernden Fenster erkennt Florence das Lichterspiel am noch dunklen Himmel. Sie sieht das große, sekundenschnelle Mündungsfeuer der Geschütze, das sich mit den gedämpften Blitzen der Explosionen vermischt. Sie sieht Lichtbahnen von Scheinwerfern, das scharfe, vielfarbige Licht von Leuchtraketen, die gedämpfte Glut plötzlich aufflammender Brände. Sie hocken im Haus. Wände und Fußböden beben.
    Dann kommen die ersten Verwundeten:
     
Anfangs konnten wir noch allen helfen; dann wurden wir von ihrer bloßen Anzahl überwältigt. Sie kamen zu Hunderten, von allen Seiten; einige konnten noch selbst gehen, andere kamen gekrochen oder schleppten sich über den Boden.
     
    Den Krankenpflegern bleibt in einer so verzweifelten Lage nur noch die Möglichkeit, rigoros zu sortieren. Wer auf den eigenen Beinen stehen kann, bekommt keine Hilfe; er wird weiter nach hinten geschickt, zu einem der Basislazarette. Von den Verwundeten, die nicht gehen können, gibt es so viele, dass sie reihenweise im Freien abgelegt werden müssen, wo sie zuerst schmerzstillende Mittel bekommen, bevor ihre Verletzungen untersucht werden. Florence und die anderen helfen, so gut sie können, obwohl sie das Gefühl haben, dass es vergeblich ist, denn der Strom zerfetzter, zerrissener Körper scheint kein Ende zu nehmen. «Das Stöhnen und Schreien der Verwundeten war jämmerlich anzuhören.»
    So geht es Stunde um Stunde. Ab und an wird es für eine Weile still.
    Das Tageslicht wird matter, die Dämmerung bricht an.
    Schattengestalten laufend schreiend umher, erleuchtet von grellen, fernen Lichtern.
***
    Am nächsten Morgen, ungefähr um sechs Uhr, hören Florence und die anderen ein neues, beängstigendes Geräusch: ein plötzliches, vibrierendes, wasserfallähnliches Dröhnen, das von über 900 Geschützen jeden denkbaren Kalibers stammt, die gleichzeitig feuern – also pro fünfzig Meter Front jeweils ein Geschütz. Sekunden später folgt das stakkatoartige Echo der Einschläge. Das metallisch klingende Geräusch der Explosionen unterschiedlicher Intensität verdichtet sich zu einer Wand aus Lärm, das Dröhnen steigert sich, steigt in Wirbeln auf, wie eine Naturkraft.
    In der Art, wie dieses Artilleriefeuer über die russische Frontlinie hereinbricht, zeigt sich eine neue, bedrohliche Systematik. Der technische Ausdruck dafür ist Feuerwalze: Sie bewegt sich vor und zurück, zur Seite und in die Tiefe, entlang den russischen Linien und Verbindungsgräben. Ein derartiger Beschuss ist etwas völlig anderes als das lässige und zufällige

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