Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)
entlang dem breiten Fluss San bezogen. Endlich sind Verstärkungen eingetroffen. Und von höchster Stelle ist der Befehl ergangen: Hier, genau hier, sollen die Deutschen und Österreicher endgültig gestoppt werden, keine weiteren Rückzüge! 44 Es hat am Fluss entlang heftige Kämpfe gegeben, und beide Seiten haben kleinere Angriffe unternommen. 45 Eines späten Abends hat Florence zum ersten Mal größere Mengen grau gekleideter deutscher Kriegsgefangener gesehen; sie kamen im Mondschein einen Weg entlang mit ihren typischen Pickelhauben, bewacht von Kosaken zu Pferde. Man spricht von hohen feindlichen Verlusten. Es gibt neue Hoffnung.
Dort, wo Florence Dienst tut, finden praktisch keine Kämpfe statt, was natürlich das Gefühl verstärkt, dass die Krise vorbei ist. Es gab viel Zeit für andere Dinge, zum Beispiel unten am Fluss Wäsche zu waschen oder den Eintritt Italiens in den Krieg zu feiern oder den eigenen Namenstag. Sie selbst ist oft durch die stillen grünen Wälder gewandert und hat Blumen gepflückt, die es jetzt im Frühsommer im Überfluss gibt. Abgesehen von den normalen Fällen von Typhus und Cholera ist es so ruhig gewesen, dass einige Krankenschwestern ungeduldig geworden sind und davon geredet haben, sich bei einer anderen Einheit zu bewerben, wo sie nützlicher wären. Ihr Chef hat versucht, sie zu beruhigen, und angedeutet, dass ihre Einheit ohnehin bald verlegt werden soll, zur 8. Armee unten bei Lemberg oder vielleicht ganz bis zum Kaukasus. (Von der letztgenannten Front hört man gute Nachrichten: Russische Einheiten rücken nach Süden vor, über die osmanische Grenze, ermuntert von Gerüchten über Aufruhr und Unruhen hinter den türkischen Linien.)
Es ist jetzt drei Uhr am Nachmittag. Florence Farmborough sitzt vor ihrem Zelt und erholt sich von der Arbeit. Alles ist wie üblich ruhig. Sie sieht vier Träger, die mehrere Tote fortschaffen, um sie auf dem provisorischen Bestattungsplatz auf einem benachbarten Feld zu beerdigen. Sie hört das Klappern einiger Störche, die sich auf dem Strohdach eines Bauernhauses ein Nest gebaut haben. Ein Mann aus der anderen fliegenden Einheit übergibt ihr einen Brief, der an ihren Arzt adressiert ist. Sie fragt ihn, wie es in seiner Einheit aussieht. Der Mann berichtet «mit verhaltener Erregung», dass am Morgen in ihrer Nähe Schrapnellkugeln eingeschlagen sind und dass sie sich zum Aufbruch vorbereiten. Die Deutschen sind am San durchgebrochen!
Die Nachricht erschüttert sie, aber Florence zweifelt, ob sie auch stimmt. Zwar ist in der Ferne das Geräusch schweren Artilleriefeuers zu hören, aber als sie sich vor dem Mittagessen ungläubig bei den anderen erkundigt, sind diese genauso ratlos wie sie. Nach dem Essen geht sie zurück zu ihrem warm duftenden Zelt, wo ihr Anna, eine andere Krankenschwester, begegnet. Sie bestätigt müde, dass die Gerüchte vom Durchbruch am San zutreffen:
Es heißt, sie strömen in großen Massen hinüber, und nichts könne sie stoppen. Wir haben Männer, aber keine Mittel. Das ganze Regiment soll keinen einzigen Schuss mehr haben, nur einzelne Batterien können noch schießen.
Anna fügt hinzu: «Unsere Armeen werden geschlachtet, und wir sind nur einen Tagesmarsch von der russischen Grenze entfernt.» Sie hat ein besetztes, verödetes Russland vor Augen, und dieses Bild überwältigt sie. Anna wirft sich auf das Bett, bedeckt ihr Gesicht mit den Armen und fängt laut an zu weinen. Florence versucht unbeholfen, ihre Tränen aufzuhalten: «Annuschka, hör auf; das ist unwürdig für jemanden mit deiner Natur!» Anna hebt die Arme und sieht Florence finster an: «Natur! Was heißt hier Natur?» Die Worte strömen aus ihr heraus. «Liegt es in Gottes Natur, diese totale Zerstörung zuzulassen? Man verliert in diesem Blutbad nicht nur seine Natur, auch die Seele stirbt!» Sie hört nicht auf zu weinen. Florence schweigt. «Ich versuchte nicht, sie zu trösten, ich fand nichts, womit ich sie trösten konnte.»
Schließlich folgt die endgültige Bestätigung in Form eines Befehls, sich marschbereit zu halten. Sie beginnen zu packen, doch werden sie dabei unterbrochen, als plötzlich eine große Gruppe Verwundeter eintrifft:
Als wir sie sahen, verstanden wir, dass das Schlimmstmögliche eingetroffen war; sie waren verwirrt, und in ihren Gesichtern war eine solche Angst zu erkennen, dass sie den heftigen Schmerz überdeckte, und in ihren Augen war etwas, das alle Fragen überflüssig machte.
Die
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