Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)
Bett liegend, hat Andresen getreu seiner Gewohnheit viel über den Krieg nachgedacht, und über den Frieden und was bald passieren könnte. Im Mai hat Italien den Mittelmächten den Krieg erklärt, die Briten griffen oben in Flandern an, und die Franzosen haben mit großer Hartnäckigkeit bei Arras attackiert; besonders heftige Kämpfe tobten auf den mit Kratern übersäten Höhen von Loretto, und es heißt, dass sich die USA und mehrere Balkanstaaten bald den Gegnern Deutschlands anschließen werden. Andresen hat sich darüber gewundert, wie selbstsicher viele Deutsche auf die zunehmende Bedrohung reagiert haben; sie sagen, der Krieg werde sich vermutlich verlängern, aber am Ende wird Deutschland doch den Sieg davontragen. Er selbst hat gehofft, dass die großen politischen Entwicklungen – reale oder eingebildete – zum Frieden führen. Er weiß, was er dann tun wird. Vor dem August 1914 hat er ein gutes halbes Jahr als Lehrer in Vinding gearbeitet, und das will er nach dem Krieg fortsetzen, mit Volksbildung und Jugendarbeit. Und er träumt davon, sich ein kleines Haus zu bauen, nicht größer als «Tante Dorotheas Hühnerhaus, aber außen und innen sehr romantisch».
In den letzten Tagen hat sich die Lage um Roye jedoch verschärft. Roye liegt nur gut zehn Kilometer von dem Frontabschnitt entfernt, der von seinem Regiment gehalten wird. Tag und Nacht ist das Geräusch von Artilleriefeuer zu ihnen gedrungen, und es geht die Rede, dass der französischen Infanterie ein Durchbruch gelungen ist. Dieser Schlacht ist er entgangen, Gott sei Dank. Und es ist nicht das Einzige. Da man bald Lazarettbetten für viele neue Verwundete brauchen wird, sollen alle Rekonvaleszenten evakuiert werden, nach Deutschland, wie es heißt.
Davon weiß er allerdings noch nichts. Einen Großteil des Sonntags liegt er nämlich im frischen grünen Gras unter einem Birnbaum, während sich die warme Luft mit dem weich rollenden Donnern ferner Kanonen füllt. Und gegen Abend geht er zu einem Kirchenkonzert. Erst als er hinkend in das Krankenhaus zurückkehrt, erfährt er, was los ist. Andresen packt sofort seine Sachen. Waffen und der größte Teil seiner Ausrüstung landen auf einem Haufen, die privaten Dinge auf einem anderen. Ihre Namen werden aufgerufen und Reisepapiere ausgehändigt, und jeder erhält ein kleines Pappschild, versehen mit Namen, Einheit, Verwundung und Ähnlichem, das auf der Brust befestigt wird. Um elf Uhr kommt ihr Marschbefehl.
Sie steigen in Automobile, jeweils fünf Mann, und donnern in die Sommernacht. Unterwegs kommen sie an ein paar hohen Offizieren vorbei, die am Straßenrand stehen und den Horizont beobachten, an dem Mündungsfeuer und Explosionsblitze, Leuchtraketen und langsam herabsinkende Signalraketen aufflammen. Aber das berührt ihn nicht mehr.
Wir sollen alle nach Deutschland, und ich weiß wirklich nicht, wie ich meine Freude ausdrücken soll. Weg vom Kampf und den Granaten; bald werden wir keine Kanonen mehr hören; dann fahren wir an fruchtbaren Äckern vorbei und durch lächelnde Dörfer. Ich fahre freudestrahlend, durch Sonntagsruhe und Glockenklang. Heim, heim und weiter.
In Chauny sollen sie umladen. Die Weiterreise soll natürlich mit der Eisenbahn stattfinden. Sie sammeln sich in einem großen Park, und ein Arzt nimmt eine weitere Untersuchung der Wartenden vor. Als er zu Andresen kommt, studiert er die Papiere und reißt ihm dann das Pappschild von der Brust. Es gibt keine Weiterreise. Andresen scheint so weit wiederhergestellt, dass er in wenigen Tagen an die Front geschickt werden kann.
Andresen tritt ab, seine Enttäuschung ist grenzenlos; alles ist plötzlich nur «schwarz in schwarz». Als er dann langsam wieder zum Park zurückkehrt, sieht er, dass sich alle aufgestellt haben, und einige rufen nach ihm. Sein Name ist aufgerufen worden. Ja, er soll doch nach Deutschland! Kaum hat sich Andresen ins Glied gestellt, entdeckt man, dass er kein Pappschild auf der Brust hat. Er wird wieder wegbeordert. «Lebwohl, Urlaub! Lebwohl, Heimat; ich ziehe wieder in den Krieg!»
45.
Freitag, 11. Juni 1915
Florence Farmborough erfährt von dem Durchbruch am San
Dies ist die dritte Woche in Molodych. Der erste, panikartige Rückzug nach dem Durchbruch bei Gorlice ist vergessen, beinahe jedenfalls. Seit jenen Tagen Anfang Mai hat die 3. Armee unglaubliche 200 000 Mann verloren – davon 140 000 Gefangene –, aber jetzt hat sie eine neue und, wie es scheint, starke Stellung
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