Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)
unbenutzten Krankentragen. Es ist jedoch nicht die Wärme, die sie aus dem Haus gelockt hat, sondern der einfache Umstand, dass der kleine Gutshof, der für sie requiriert worden ist, Château Chanteloup, ausgeräumt und ziemlich schmutzig ist. Außerdem ist der größte Teil ihrer Ausrüstung auf Irrwege geraten. Ohne Zelte oder eine funktionierende Küche können sie keine Verwundeten aufnehmen. Das Gut ist jedoch malerisch gelegen, zwar unmittelbar an der Straße, aber umgeben von einem Obst- und Gemüsegarten, mehreren großen Wiesen und einem kleinen Wald ganz in der Nähe.
Olive King ist wie gewohnt früh aufgestanden. Schon um Viertel nach acht sitzt sie hinter dem Steuer ihres Sanitätswagens. Sie ist auf der Suche nach Bänken und Tischen, um das Haus zu möblieren. Neben ihr sitzt ihre Vorgesetzte, Mrs. Harley, die Transportchefin. Olive May King ist eine neunundzwanzigjährige Australierin, geboren in Sydney und Tochter eines erfolgreichen Geschäftsmanns. (Sie ist überhaupt in vieler Hinsicht Papas Mädchen, zumal ihre Mutter starb, als Olive erst fünfzehn war.)
Ihre Jugend und Erziehung verliefen eher typisch (den Abschluss machte sie in Dresden, wo Unterricht in Porzellanmalerei und Musik auf dem Stundenplan standen), ihr weiteres Leben nicht. In ihr lebt eine Spannung zwischen der aufrichtigen und naiven Sehnsucht nach Mann und Kindern auf der einen Seite und einer energischen und unruhigen Natur auf der anderen. In den Jahren vor dem Krieg ist sie viel gereist, in Asien, Amerika und Europa, natürlich die ganze Zeit begleitet von einer Anstandsdame. Sie hat als erste Frau der Welt den 5452 Meter hohen Vulkan Popocatépetl südöstlich von Mexico City bestiegen und sich als Erste in die rauchende Krateröffnung hinabgewagt. Aber etwas fehlt. In einem Gedicht, das sie im Jahre 1913 schreibt, betet sie zu Gott: «Schick mir eine Trauer […], um meine Seele aus diesem alles verschlingenden Dämmerschlaf zu erwecken.» Auch sie ist eine von denen, für die das Evangelium des Krieges eine persönliche Wandlung verheißt.
Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass Olive King nach dem Kriegsausbruch eine Möglichkeit suchte, von einer Zuschauerin zur Teilnehmerin zu werden; Abenteuerlust und ein starker Patriotismus trieben sie an. Sie schlug den einzigen Weg ein, der Frauen im Jahre 1914 offen stand: das Sanitätswesen. Gleichzeitig ist es bezeichnend für King, dass sie nicht Krankenschwester wurde, sondern als Chauffeurin anheuerte, am Steuer eines großen Sanitätsautos der Marke Alda, das sie selbst gekauft hatte, vom Geld ihres Vaters. Kraftfahrzeuge zu lenken ist noch immer eine exklusive Fertigkeit, besonders für Frauen. Die Organisation, für die King jetzt arbeitet, nennt sich The Scottish Women’s Hospital – eine von vielen privaten Sanitätseinheiten, die in der Euphorie des Herbstes 1914 aufgestellt werden, doch ist sie insofern ungewöhnlich, als sie von radikalen Suffragetten gegründet und ausschließlich mit Frauen besetzt wird. 41
Olive King fährt an diesem Morgen ihren eigenen Sanitätswagen. Er hat die Nummer 9862, aber sie nennt ihn Ella, eine Abkürzung für Elefant. Und der Sanitätswagen ist groß, beinahe ein kleiner Bus: Er hat nicht weniger als sechzehn Sitzplätze. Der Laderaum hinten ist eine Spezialanfertigung, der Wagen ist schwer, und King kann ihn nur selten schneller als 40 – 45 Stundenkilometer fahren.
Gegen elf Uhr sind sie zurück. Mit Hilfe einer anderen Chauffeurin, Mrs. Wilkinson, lädt King die Tische und Bänke aus, die sie aufgetrieben haben, und stellt sie in den Garten. Danach ziehen King und Mrs. Wilkinson sich um und machen sich daran, das Nebengebäude zu säubern, in dem die Chauffeurinnen untergebracht sind. Sie arbeiten mit Schrubber und Schwamm, wechseln mehrmals das Wasser und hören erst auf mit ihrem emsigen Putzen, als die Fußböden vollkommen sauber sind. Sie wollen auch eins der Zimmer neu tapezieren, doch das muss warten.
Das Abendessen besteht aus Spargel, der gerade Saison hat und gut und billig ist. Wie üblich haben sie beim Essen Zuschauer. Das Fenster des Speisesaals geht zur Straße, und Neugierige schauen herein, um einen Anblick dieser sonderbaren Frauen zu erhaschen, die freiwillig gekommen sind, um im Krieg zu helfen, und die außerdem ohne Männer zurechtkommen. Anschließend verschwinden sie auf ihre Zimmer, um Briefe zu schreiben – die Post geht am nächsten Morgen früh ab. King schreibt ihrer
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