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Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)

Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)

Titel: Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Englund
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Schwester:
     
Ich glaube nicht, dass es viele Monate dauern wird, bis der Krieg vorbei ist. Dass dieses verfluchte Giftgas Gott sei Dank ein Misserfolg war, wird sich als großer Rückschlag für Deutschland herausstellen. Ist es nicht wunderbar, dass die neuen Gasmasken so gut funktionieren? Gott sei Dank dafür. Gott sollte alle diese grässlichen Gasgranaten explodieren und 500   000 Deutsche töten lassen, und ich wünschte, Er könnte Feuer oder Fluten schicken, um alle deutschen Munitionsfabriken zu sprengen.
     
    King schreibt dies in ihrem frisch gescheuerten Zimmer, halb liegend auf einer defekten Trage, die ihr gerade als Bett dient. Bis auf einen Stuhl und ein Grammophon mit Kurbel ist das Zimmer leer. Es hat außerdem einen offenen Kamin mit einem Sims aus Marmor, in den sie ihre Zigarettenstummel, Streichhölzer und anderen Abfall werfen. An den Wänden hängt eine Tapete, die ihr sehr gefällt, eine Tapete mit braunen Papageien, die in Rosenbüschen sitzen und Nüsse essen. Sie friert. Sie ist schläfrig. Wann wird ihr Krieg endlich anfangen?

43.
    Mittwoch, 26. Mai 1915
    Pál Kelemen kauft vier Laibe Weißbrot in Glebovka
     
    Die Russen sind jetzt wirklich auf dem Rückzug. Das hat er in den letzten Tagen feststellen können, als er durch immer neue, schwer in Mitleidenschaft gezogene Orte ritt und sah, was der Feind alles hinterlassen hat, von Abfall und Müll auf den Straßen über tote oder sterbende Soldaten bis hin zu neu aufgestellten Wegweisern mit unbegreiflichen Namen in kyrillischen Buchstaben. (Vor einem Jahr führte die Straße nach Lemberg; jetzt führt sie nach Lvov; bald wird sie wieder nach Lemberg führen.  42 )
    Kelemen hat nichts dagegen, wieder auf dem Marsch zu sein, und schon gar nicht, dass die russischen Invasionstruppen vertrieben werden. Die Nachricht vom großen Durchbruch bei Gorlice wurde von den Truppen aber mit weit weniger Jubel aufgenommen, als man hätte erwarten können. «Alle hier sind gleichgültig geworden», schreibt er in sein Tagebuch, «abgestumpft von der ständigen Anspannung.»
    Seit gestern sind sie in der kleinen Stadt Glebovka. Als er mit den anderen Husaren hineinritt, wunderte er sich über zwei Dinge. Zuerst über ein Haus mit intakten Fensterscheiben, hinter denen er weiße Spitzengardinen erkennen konnte. Und dann über eine junge Polin – er ist immer auf der Suche nach jungen Frauen –, die durch eine Ansammlung von Soldaten und russischen Kriegsgefangenen ging und weiße Handschuhe trug. Er braucht sehr lange, um diese Handschuhe und diese Spitzengardinen zu vergessen, das makellos Weiße in einer Welt von Schmutz und Schlamm.
    Heute hat er herausgefunden, dass es weißes Brot gibt. Und da er das normale Kommissbrot satthat, das entweder teigig oder zu trocken ist, geht er einkaufen – vier große Laibe. Kelemen notiert in sein Journal:
     
Ich schneide einen davon an. Er ist noch nicht abgekühlt. Sein starkes Aroma füllt meine Nasenlöcher. Langsam, beinahe mit Ehrfurcht, nehme ich den ersten Bissen zu mir und versuche, den Geschmack so deutlich wie möglich zu spüren. Ich denke, dies ist das gleiche Weißbrot, das ich früher immer gegessen habe, vor dem Krieg.
Ich esse und konzentriere mich. Aber mein Gaumen kennt sich überhaupt nicht mehr aus, und deshalb esse ich dieses Weißbrot, als sei es eine neue Art Nahrung, deren Geschmack mir ganz unbekannt ist.
Danach wurde mir klar, dass das Brot wirklich das gleiche war wie das zu Hause. Wer sich verändert hatte, war ich selbst; dem alten guten Weißbrot, das ich früher für selbstverständlich hielt, hatte der Krieg einen fremden Geschmack verliehen.

44.
    Sonntag, 6. Juni 1915
    Kresten Andresen wird aus dem Krankenhaus von Noyon evakuiert
     
    Vielleicht ist es der Zufall, der launische Zufall, der ihn rettet? In einer dunklen Nacht Anfang Mai stürzte Andresen in einen schmalen Laufgraben und brach sich das rechte Wadenbein gleich oberhalb des Fußgelenks. Seitdem hat er die meiste Zeit im Lazarett verbracht, in einem großen Saal, der früher ein Theater gewesen ist, gepflegt von freundlichen französischen Nonnen, gelangweilt wegen des Mangels an Lektüre und des schlechten Essens müde – Kranke brauchen angeblich nicht so viel wie Frontsoldaten  43  –, aber doch sehr zufrieden. Mindestens sechs Wochen, hat der Doktor gesagt. Mit ein wenig Glück kann er der Front noch bis Juni fernbleiben; und vielleicht, vielleicht, vielleicht ist der Krieg dann zu Ende?
    In seinem

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