Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)
an Typhus. Vor ein paar Tagen ist er mit dem Krankenwagen auf winterlichen Straßen hierhertransportiert worden. Er lag auf einem Platz ganz oben, immer wenn der Krankenwagen über ein Schlagloch fuhr, schlug sein Kopf fast an die Decke. Als der Transport endlich am Ziel war, ging es D’Aquila so schlecht, dass die Krankenpfleger glaubten, er sei tot. Sie trugen ihn in die ungeheizte Leichenhalle. Dort fand man ihn später, auf einer Bahre.
Die Krankheit ist immer schlimmer geworden. Sein Schädel ist fast geplatzt. Er hat wirres Zeug gefaselt, nach Kaiser Wilhelm gerufen, um ihn wegen des Krieges persönlich zur Rede zu stellen. Krankenschwestern setzten ihm etwas auf den Kopf, das er für eine Goldkrone hielt – es war ein Eisbeutel. Er hat Stimmen gehört, überirdisch schöne; er hat Musik vernommen.
Die Glocken sind jedoch höchst real. Der Priester und die beiden Nonnen gehen durch den Saal, D’Aquila folgt ihnen mit seinen Blicken, hat Mitleid mit dem armen Teufel, dem jetzt die Stunde schlägt. Was für eine Vorstellung, am Heiligabend zu sterben, «in diesen Stunden, die die ganze Welt in höchster Freude und Glück begehen soll».
Die kleine Gruppe lässt Bett um Bett hinter sich. Die Glöckchen bimmeln. Es ist, als dehne sich die Zeit in D’Aquilas überhitztem Geist. «Die Zeit wird nicht gemessen. Die ganze Ewigkeit kann in einem einzigen Augenblick enthalten sein.» Die drei kommen immer näher, er lässt sie nicht aus den Augen.
Sie bleiben an seinem Bett stehen. Die Nonnen fallen auf die Knie.
Er ist es, der sterben soll.
D’Aquila will nicht, er hat nicht die Absicht, er wird nicht sterben. Der Priester murmelt seine Gebete und bestreicht D’Aquilas Stirn mit Öl, aber in D’Aquilas Hirn wird er zum Henker, der ihm mit dieser Handlung das Leben rauben will. D’Aquila ist jedoch so schwach, dass er kein Wort herausbringt. Er begegnet dem Blick des Priesters. Eine der Nonnen bläst die Kerzen aus. Er wird allein gelassen.
D’Aquila schildert, was danach geschah:
Alles um mich herum lag in vollständigem Dunkel, was, wie ich annehme, dazu beitrug, dass ich das seltsame Gefühl hatte zu schweben. Es war, als verharrte ich in der Luft, ohne mich nach rechts oder links, vorwärts oder rückwärts zu bewegen, ohne aufzusteigen oder herunterzusinken. Der Äther selbst bewegte sich auch nicht. Es war ein Zustand absoluter Reglosigkeit! […] Abrupt, nach einer bedrückenden Phase von Bewegungslosigkeit in diesem undurchdringlichen Medium […], trat wie ein silberner Schirm vor dem pechschwarzen Hintergrund eine Wand aus Licht hervor. Vor meinen Augen spielte sich dann langsam, wie ein farbiges Kaleidoskop, mein ganzes Leben auf dieser Erde ab, angefangen bei meiner Geburt und meinen ersten Jahren und bis zu dem Augenblick, da mir das Sterbesakrament gegeben wurde.
Alles verändert sich, er kämpft nicht mehr gegen den Tod, sondern heißt ihn freudig willkommen.
Seine Fieberphantasien halten an. Er wird zu einer Frau, die ein Kind gebärt. Er fliegt durchs Universum, vorbei an Planeten, Sternen, Galaxien, aber die sich durchs Weltall ziehende Bahn senkt sich, und er kehrt zur Erde zurück, nach Norditalien, nach Udine, ins Lazarett in der Via Dante, durch ein enges kleines Fenster in den Krankensaal und zu jenem Ding an der äußersten Grenze des Daseins: seinem eigenen Körper.
72.
Weihnachten 1915
Paolo Monelli erlebt seine Feuertaufe auf dem Berg Panarotta
Es ist so weit. Die Feuertaufe. Um Mitternacht marschieren sie los. Über den Schnee erstreckt sich eine Kolonne von Soldaten und bepackten Mauleseln. Während sie vorwärts marschieren, denkt Paolo Monelli an zwei Dinge. Das Erste ist sein Zuhause. Das Zweite, wie froh es ihn macht, später von dem, was er erleben wird, erzählen zu können. Es ist kalt, wolkenloser Himmel, blasse Sterne. Mondlicht liegt auf dem weiß glitzernden Schnee. Man hört nichts außer dem Knirschen der Stiefelstollen auf dem Eis, dem Klappern des leeren Kochgeschirrs, vereinzelten Flüchen und Gesprächsfetzen. Nach sechs Stunden erreichen sie ein menschenleeres und geplündertes österreichisches Dorf. Den Tag über werden sie hier ausruhen, um bei Einbruch der Dunkelheit einen Überraschungsangriff auf einen österreichischen Posten auf dem Berg Panarotta durchzuführen.
Paolo Monelli ist in Fiorano Modenese in Norditalien geboren. Ursprünglich hatte er vor, zum Militär zu gehen, doch zunächst begann er ein Jurastudium an der
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