Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)
trifft er seinen alten Freund, den Motorradfahrer, sowie einige andere Belgier, die ebenfalls hier sind, um sich zu Kampfpiloten ausbilden zu lassen. Eine hochnäsige, geschwätzige junge Frau serviert ihnen das Essen. Ihr Name ist Odette.
***
Am selben Tag 69 stößt Rafael de Nogales in Tel Armeni an der Grenze zu Mesopotamien wieder auf Spuren von Massakern an Christen. Er ist vollauf damit beschäftigt, die romantische Landschaft zu bewundern, als er in ein paar antiken Ruinenfeldern am Rande der Stadt Verwesungsgeruch bemerkt:
Ich wollte herausfinden, woher er [der Geruch] kam, und wich entsetzt von einigen Brunnen oder Zisternen zurück, in denen sich stark verweste Leichen von Christen stapelten. Etwas weiter entfernt entdeckte ich einen weiteren unterirdischen Hohlraum, der dem Gestank nach zu urteilen ebenso mit Leichen gefüllt gewesen sein musste. Als sei dies nicht genug, lagen überall Tote herum, von denen manche nur notdürftig mit Steinhaufen bedeckt waren; darunter ragte ein vereinzelter blutiger Haarschopf oder ein Arm oder Bein heraus, an denen die Hyänen genagt hatten.
70.
Mittwoch, 22. Dezember 1915
Edward Mousley und das Geräusch der Kugeln
Es ist Abend. Er liegt wach im Schutzraum, gut gebettet in seinen Burberry-Schlafsack. Die einzige Lichtquelle in dem fensterlosen Raum ist eine einsame Kerze in einer Wandnische, die einen Schatten über Decke und Fußboden wirft. Edward Mousley blickt zu der von Sandsäcken umrahmten Tür hinüber. Er sieht einen Munitionswagen. Er sieht Gewehre, ein Batteriefernglas, ein Feldtelefon. Eine von Granatensplittern getroffene Mauer, abgeschnittene Palmenblätter, die senkrecht herunterhängen. Die Luft ist kühl. Es ist windstill.
An diesem Abend herrscht Alarmbereitschaft in Kut al-Amara. Man befürchtet einen neuen osmanischen Nachtangriff, und Mousleys Batterie von achtzehnpfündigen Feldkanonen, die in einem Hain mit Dattelpalmen eingegraben ist, soll dann das Sperrfeuer eröffnen. Draußen in der Dunkelheit hört man gelegentlich das Knattern eines Maschinengewehrs oder auch den scharfen Knall, wenn eine Kugel die Mauer hinter ihm trifft. Es ist kaum ein Monat vergangen, seit er sich dem Korps in Mesopotamien angeschlossen hat, und die physikalischen Aspekte des Kampfes interessieren ihn noch sehr. Zum Beispiel das Geräusch der Kugeln. Er schreibt in sein Tagebuch:
Man hört unmittelbar vorher [vor dem Einschlagen der Kugel] einen Knall, ähnlich dem Geräusch, wenn ein Stock zerbricht, und unwillkürlich duckt man sich. Oder vielmehr merkt man, dass man sich geduckt hat. Anfangs ducken sich alle. Es ist sinnlos, den Leuten zu erklären, dass die Kugel, wäre sie gefährlich gewesen, getroffen hätte, bevor man das Geräusch des Einschlags in die Palme hört. Manche ducken sich endlos weiter.
Die Nacht wird ruhig. Plötzlich heftiges osmanisches Maschinengewehrfeuer. Mousley kriecht aus seinem warmen Schlafsack und geht nach draußen, um nachzuschauen. Es passiert jedoch nichts, abgesehen davon, dass ein indischer Stallknecht verwundet wird, wieder ein paar Pferde getötet und noch mehr Blätter von den Palmen geschossen werden.
***
Am selben Tag schreibt Florence Farmborough, gerade aus dem Urlaub zurückgekehrt, in ihr Tagebuch:
Wir waren so wild darauf, unsere Arbeit wieder aufzunehmen, dass wir uns darum zankten, wer die erste Schicht übernehmen darf, aber weil es Annas Namenstag war, fiel die Entscheidung zu meinen Gunsten. Während meiner Abwesenheit war ein neuer Operationssaal eingerichtet worden. Es war ein sauberer, weiß gekalkter, hübscher kleiner Raum. Voller Stolz schaute ich mich darin um. Als die Dunkelheit hereinbrach, stellte ich seltsamerweise fest, dass ich nicht schlafen konnte. Ich saß beim Licht einer Kerze und las und lauschte allen Geräuschen, die von draußen hereindrangen, auch wenn ich wusste, dass wir wahrscheinlich keine Verwundeten hereinbekommen würden, weil die Front ruhig war.
71.
Freitag, 24. Dezember 1915
Vincenzo D’Aquila erhält in Udine die letzte Ölung
Zuerst hört er das Glockengebimmel, danach sieht er die kleine Gruppe den Flur entlangkommen, vornweg ein Priester im Messgewand. Zwei Nonnen, die brennende Kerzen halten, flankieren ihn. D’Aquila überlegt, welchen seiner Unglücksbrüder sie diesmal besuchen.
Sie betreten den Saal. Jemand soll die Letzte Ölung erhalten.
Vincenzo D’Aquila liegt im Militärkrankenhaus in Udine, er leidet, wie so viele andere,
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