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Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)

Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)

Titel: Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Englund
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seinem Kopf hinwegsausen und zuweilen in nur zwanzig Meter Entfernung einschlagen. Genau diese Art von Feuerleitung macht ihm richtig Spaß, great fun .
    Osmanische Heckenschützen lauern überall, und sie sind treffsicher. Manchmal, wenn die Telefonleitung nicht heranreicht, gibt Mousley seiner Batterie Signale durch Flaggen, und die Gegner schießen sogar darauf. Den ganzen Tag ist er unter Beschuss gewesen.
    Später notiert er im Tagebuch:
     
In Wahrheit handelt es sich bei den persönlichen Erfahrungen in dem, was man Krieg nennt, bestenfalls um das Erwachen der Erinnerung an einen schwer begreiflichen und verwirrenden Traum. Einige wenige Ereignisse treten etwas deutlicher hervor; ihre Klarheit verdankt sich der Hitze des Selbsterlebten. Danach werden auch die gefährlichsten Situationen alltäglich, bis es einem so scheint, als böten die Tage nichts anderes von Interesse als die ständige Nähe des Todes. Aber selbst diesen Gedanken, so sehr er auch am Anfang in den Vordergrund tritt, verdrängt man, da er stets gegenwärtig und daher zu vernachlässigen ist. Ich bin fest davon überzeugt, dass man eines Gefühls überdrüssig werden kann. Ein Mensch kann nicht endlos lange herumlaufen und den Tod fürchten. Die Psyche ermüdet und schiebt es beiseite. Ich habe gesehen, wie neben mir ein Mann von einem Schuss getroffen wurde, und habe ohne Unterbrechung meine Feuerleitsignale gegeben. Bin ich gefühllos? Nein, nur weniger leicht zu erschüttern.

69.
    Mittwoch, 15. Dezember 1915
    Willy Coppens bezieht ein Hotel in Étampes
     
    Das Zimmer ist klein, oder vielmehr seltsam schmal, aber die Aussicht ist schön. Als Coppens ans Fenster tritt, erkennt er den Marktplatz, den Bahnhof und hinter den entlaubten Bäumen die Ruinen des Tour de Ginette. Dieses Zimmer im Hôtel Terminus hat noch einen weiteren Vorzug: Der berühmte französische Flieger Chevillard  68 hat hier gewohnt – immer etwas, womit man angeben kann. Im Übrigen war kein anderes Zimmer mehr frei, das Terminus ist das einzige Hotel am Ort, in dem alle Gäste sich ein Badezimmer teilen müssen.
    Voller Spannung ist Coppens in Étampes, südlich von Paris, angekommen. Er hat auf eigene Kosten an einer privaten Pilotenschule in Hendon in England eine zweimonatige fliegerische Grundausbildung absolviert. Nachdem ihn cholerische Herren in untermotorisierten Maschinen instruiert hatten, die so klein und leicht gebaut waren, dass sie nur bei absoluter Windstille flogen (sobald die Blätter der Bäume sich bewegten, wurde das Fliegen eingestellt), hatte er vor zehn Tagen seinen ersten Alleinflug – nach dreißig Unterrichtsstunden und sechsundfünfzig Minuten in der Luft. Gleich darauf absolvierte er seine offizielle Flugprüfung. Sie bestand darin, mit dem Flugzeug eine Serie liegender Achten zu fliegen und anschließend mit ausgeschaltetem Motor exakt vor dem Fluglehrer zum Stehen zu kommen. Es funktionierte, und mit dem Flugschein Nummer 2140 des Royal Aero Club in der Tasche ist Coppens jetzt in Étampes, um den militärischen Teil seiner Ausbildung zu beginnen.
    Doch es herrscht ein gewisser Kontrast zwischen der «wilden Freude», die ihn erfüllte, als er seinen Flugschein überreicht bekam, und dem Empfang, der ihm zuteil wurde, als er am Morgen in Étampes aus dem Zug stieg. Niemand war gekommen, um ihn abzuholen, und der Marktplatz der kleinen Provinzstadt war ebenso öde und freudlos wie der Dezemberabend. Überall «uninteressante Häuser, bewohnt von uninteressanten Bürgern». Die Cafés sind leer. Und doch ist die Stadt in diesen Monaten dabei, zu neuem Leben zu erwachen, denn der Krieg, der Zufall und – nicht zuletzt – die Streckenführung der Eisenbahn haben ihr eine neue Bedeutung verliehen, in diesem Fall als Ausbildungsort. In der Nähe von Étampes befinden sich mehrere militärische Flugfelder. Am Himmel hört man die ganze Zeit das Surren der Maschinen, außer sonntags, wenn der Übungsbetrieb ruht. Es war die zufällige Begegnung mit einem alten Freund – sie hatten vor dem Krieg gemeinsam Mechanikstudien betrieben und waren zusammen Motorrad gefahren –, die ihn ins Hôtel Terminus geführt hat. Dabei fehlt es bei der Ankunft nicht an unheilvollen Zeichen. Von weitem hat er einen Begräbniszug gesehen. Der Tote war angeblich ein französischer Pilot, der bei einem Unglück ums Leben kam.
    Am Abend isst er in dem kleinen Hotel nebenan, das im Gegensatz zum Hôtel Terminus über einen eigenen Speisesaal verfügt. Dort

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