Schöpfung außer Kontrolle: Wie die Technik uns benutzt
Mitarbeiter keine unmittelbare Rückmeldung über die Qualität ihrer Arbeit bekamen. Erst das Endprodukt wurde auf seine Qualität hin geprüft. Dagegen ist in einer selbstorganisierten Fertigung jede Abteilung für ihre eigene Qualität verantwortlich. Es gilt das
Prinzip: »Nimm nichts Fehlerhaftes an und gib nichts Fehlerhaftes weiter.« Das Managementprinzip dagegen lautet: »Steuere nur, was du steuern musst.«
In der modernen Massenfertigung hört die Evolution von Produkten also nicht in der Entwicklungsabteilung auf, sondern zieht sich bis in die Fertigungshallen hinein. Reproduktion, Mutation und Selektion finden auch dort statt und verändern das Endprodukt (im Beispiel das Auto) in vielen kleinen Details, die zu mehr Qualität und Sicherheit oder zu geringeren Produktionskosten (und damit größeren Reproduktionschancen) beitragen.
Tatsächlich weiß zum Schluss niemand mehr in allen Details, »warum am Ende ein Auto herauskommt«. Das ist auch nicht erforderlich - das Evolutionsprinzip sorgt ganz von selbst für eine ständige Verbesserung der Produktionsabläufe und der Produktqualität.
Manchmal führt die zufällige Mutation in der Fertigung zu überraschenden Ergebnissen. Ein schönes Beispiel dafür brachte mir mein Sohn Nikolaus, zu diesem Zeitpunkt 12 Jahre alt, im Dezember 2004. Er kam eines Tages nach der Schule mit einer neuen Mütze nach Hause: 100 Prozent Polyester, Made in China. Das Besondere an der Mütze war der Schriftzug mit dem Namen unserer Heimatstadt, der in silbernen Lettern aufgestickt war (die Mütze war offenbar eine Mutation der zu dieser Zeit sehr populären Stadtnamen-Trainingsjacken, die in unzähligen Variationen ein Jahr zuvor einen spektakulären Siegeszug durch Deutschland angetreten hatten). Doch dort stand nicht »HAMBURG«, sondern »HAMBRUG«.
Der simple Buchstabendreher in einem chinesischen Werk hatte dazu geführt, dass die Mützen für einen Euro pro Stück verramscht wurden. Doch er hatte noch einen völlig unvorhersehbaren Nebeneffekt: Die Mützen wurden »Kult«. Praktisch jeder Schüler an seiner Schule hatte eine. Innerhalb von Tagen waren sie ausverkauft.
»HAMBRUG«-Mütze
Aus einem Produktionsfehler war eine neue, heißbegehrte Produktmutation entstanden, die sich viel schneller ausbreitete als das ursprünglich geplante Produkt. Ein vermeintlicher Selektionsnachteil hatte sich als Selektionsvorteil erwiesen. Der niedrige Preis der Mütze mag eine zusätzliche verkaufsfördernde Rolle gespielt haben, doch wer Jugendliche kennt, weiß, dass sie nie auf die Idee kommen würden, eine neue Mütze zu kaufen, nur weil sie billig ist. Mein Sohn hatte jedenfalls nie zuvor eine Mütze von seinem Taschengeld bezahlt.
Betrachten wir die zweite Komponente, die Selektion. Wird immer das jeweils beste Produkt ausgewählt, oder spielt auch hierbei der Zufall eine Rolle?
Wirtschaftswissenschaftler haben längst erkannt, dass ein perfekter Markt mit vollständiger Information aller Teilnehmer nicht existiert. Daraus folgt, dass nicht immer das günstigste oder für den jeweiligen Zweck am besten geeignete Produkt gekauft wird - etwa deshalb, weil der Käufer nicht weiß, dass es woanders ein günstigeres oder besseres Produkt gibt, oder weil dieses Produkt gerade nicht verfügbar ist.
Zahlreiche Beispiele belegen, dass nicht immer das technisch beste Produkt im Markt überlebt:
- In den achtziger Jahren konkurrierten drei verschiedene Standards für Videorekorder: VHS, Betamax und Video 2000. Das technisch am wenigsten leistungsfähige VHS-System setzte sich durch.
- Nach Meinung vieler Anwender war der Apple Macintosh zu seiner Zeit dem Konkurrenzsystem des »IBM-kompatiblen« PCs klar überlegen. Aufgrund der Tatsache, dass Apple sein System exklusiv mit einem selbstentwickelten Betriebssystem vermarktete, während es zahllose Hersteller von »IBM Clones« mit einem Standard-Betriebssystem von Microsoft gab, die wiederum den Softwareherstellern einen besseren Absatzmarkt boten, blieb der Mac ein Nischenprodukt für Grafiker und Individualisten.
- Im Markt für Videospiele mussten die Hersteller technisch überlegener Systeme immer wieder feststellen, dass die Zahl und Qualität der verfügbaren Spiele, die von Drittherstellern angeboten wurden, einen wesentlich größeren Einfluss auf die Marktakzeptanz hatten als technische Daten wie Prozessorgeschwindigkeit und Grafikauflösung. So setzte sich 2005 die technisch unterlegene Sony
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