Schöpfung außer Kontrolle: Wie die Technik uns benutzt
erfolgreiche Mutation hervorbringt, kann diese das ganze System aus dem Gleichgewicht bringen. Stellen wir uns beispielsweise vor, dass eine Bakterienart ein chemisches Abfallprodukt erzeugt, das von einer anderen Bakterienart weiterverarbeitet wird. Wenn die erste Bakterienart nun von einer neuen Mutation verdrängt wird, die vielleicht eine andere Chemikalie ausstößt, hat die zweite Art keine Überlebenschance mehr. Eine neue Mutation würde entstehen, die besser mit den veränderten Bedingungen zurechtkommt, und nach kurzer Zeit wäre das ganze Ökosystem »umgekrempelt«. Aber wie wir gesehen haben, ist die Wahrscheinlichkeit, dass das passiert, bei primitiven Organismen in stabilen Umgebungen sehr gering.
Was aber, wenn wir statt 10 Organismen in einem Ökosystem 1000 haben? Bei gleicher Wahrscheinlichkeit einer erfolgreichen Mutation innerhalb einer Spezies steigt die Chance, dass sich das Gesamtsystem verändert, deutlich an. Zwar sind in einem komplexen Ökosystem die Auswirkungen einer Mutation auf die übrigen Spezies meist weniger drastisch (wenn eine Vogelart mutiert, verändert sich nicht der ganze Wald), aber es gibt in begrenzten Bereichen immer wieder Veränderungsdruck: Eine Mutation eines Raubvogels, die zu besseren Augen führt, erhöht beispielsweise den Druck auf die Beutetiere, ihre Tarnung zu verbessern. Vielfalt führt also aus sich selbst heraus zu einer Zunahme von Veränderungen.
Für die Vielfalt des Lebens gilt etwas Ähnliches wie für die Entwicklung der Intelligenz: Sie muss im Zeitablauf zunehmen. Die Evolution startet bei null, und der statistische »Random Walk« kann nur zu mehr Vielfalt führen. Damit haben wir einen sich selbst beschleunigenden Effekt: Zunehmende Vielfalt führt zu mehr Mutation, die wiederum zu mehr Vielfalt führt.
Doch die Evolution hat noch mehr »Tricks« entwickelt, um sich selbst zu beschleunigen. Vor ungefähr 800 Millionen Jahren passierte etwas Bemerkenswertes, das die »Mathematik des Lebens« grundlegend veränderte: Die ersten Mehrzeller entstanden.
Mehrzeller haben aus Sicht der Evolution zwei entscheidende Vorteile. Erstens haben sie ein komplexeres Genom. Der Code für die Entwicklung einzelner Zellen kann mutieren. Eine zufällige Veränderung dieses Codes führt in der Regel dazu, dass sich nicht alle, sondern nur einige wenige Zellen verändern. Damit ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Veränderung tödlich ist, deutlich kleiner. Gegenüber einem einfachen Bakterium hat ein - immer noch recht primitiver - Fadenwurm ein um den Faktor 100 größeres Genom. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine zufällige Mutation eines Basenpaares einen gravierenden, tödlichen Effekt hat, ist also viel kleiner. Mutationen können sich gradueller vollziehen, und die Wahrscheinlichkeit, dass sie einen leichten Selektionsvorteil bringen, steigt.
Der zweite, noch wesentlich größere Vorteil ist, dass sich nicht nur der Aufbau einzelner Zellen verändern kann, sondern auch ihre Anordnung zueinander. Beispielsweise kann die genetisch bedingte Länge eines Fadenwurms zufällig mutieren. Es ist viel einfacher, durch genetische Variation der Menge einer bestimmten Zellart eine solche Größenveränderung zu erzielen als durch die Vergrößerung jeder einzelnen Zelle bei gleichbleibender Anzahl. Gleiches betrifft Veränderungen in der Körperstruktur des Lebewesens. Beispielsweise sind Wissenschaftler in der Lage, durch eine relativ einfache genetische Manipulation einer Fliege statt Fühlern ein zusätzliches Beinpaar wachsen zu lassen.
Solche Veränderungen der Anordnung führen mit wesentlich geringerer Wahrscheinlichkeit zu einem fatalen Defekt, und sie bieten noch einmal eine wesentlich bessere Möglichkeit, einen Selektionsvorteil zu erlangen. Die zusätzlichen Beine der genetisch manipulierten Fliege mögen auf den ersten Blick eher monströs als vorteilhaft wirken, aber zumindest sind sie für die Fliege nicht unmittelbar lebensbedrohlich, und es ist durchaus denkbar, dass sich ähnlich drastische Mutationen in der Natur unter bestimmten Umständen als nützlich erweisen.
Die Mehrzelligkeit führte zu einem dramatischen Anstieg der Vielfalt des Lebens und damit zu einer starken Beschleunigung der Evolution. Zwei Milliarden Jahre lang hatten Einzeller das Bild des Planeten beherrscht. Nun plötzlich wuselten vielfältige, merkwürdig geformte Wesen herum. Ihre Größe und ihr Aussehen unterschieden sich viel stärker voneinander, als das bei Einzellern
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