Schöpfung außer Kontrolle: Wie die Technik uns benutzt
verteidigen, die ihnen ihren Lebensraum streitig machen. Oft wurden und werden auch hier Rituale benutzt: Das ständige Wiederholen bekannter Argumente, das Lächerlichmachen des Andersdenkenden, das selektive Wahrnehmen von Memen, die in symbiotischer Harmonie zu dem bevorzugten Mem passen. Dieses Verhalten findet sich in Politik und Religion, aber nicht selten auch in wissenschaftlichen Debatten. Dabei ist doch eigentlich offensichtlich, dass die Evolution von Memen, die nicht beweisbar sind, nie abgeschlossen sein kann.
Ein religiöser Mensch, der nichtsdestotrotz bereit ist, sich der Tatsache der memetischen Evolution zu stellen, könnte sich mit folgendem Gedanken trösten: Vielleicht ist es ja gerade der Sinn, das Wesen Gottes, dass wir nicht aufhören, nach ihm zu suchen. Wenn es einen Gott gibt, dann können Menschen niemals seine absolute Wahrheit vollständig ergründen. Stattdessen müssen sie immer weiter versuchen, sich ihr anzunähern - durch Reproduktion, Mutation und Selektion ihres Bildes von Gott.
Eine Religion oder Weltanschauung aber, die einen Absolutheitsanspruch erhebt und diesen mit Hilfe von Ritualen gegen jede Art der Veränderung zu zementieren versucht, widerspricht dieser Aufgabe. Indem sie behauptet, die absolute Wahrheit zu kennen, gibt sie die Suche nach eben dieser Wahrheit auf. Jede Religion, die behauptet, Gottes Willen, seine absolute Wahrheit zu kennen, ist im Grunde nichts anderes als Blasphemie.
Anders als Richard Dawkins, der in »Der Gotteswahn« religiöse Meme grundsätzlich ablehnt, glaube ich persönlich nicht, dass jede Art von unbeweisbarem Mem - jede Art von Glaube also - schädlich ist. Im Gegenteil gibt es viele Beispiele für die positive Wirkung von Religiosität, auf den Gläubigen selbst wie auch auf andere. Außerdem sind auch nichtreligiöse Philosophien und Ethiken, wie etwa der Humanismus, letztlich unbeweisbare Meme, an die man glauben kann oder auch nicht.
Das Problem ist nicht der Glaube an sich. Das Problem ist sein Absolutheitsanspruch - die Behauptung, die absolute, unverrückbare Wahrheit zu kennen; die Verteidigungsmauer des Mems gegen die Kräfte der Evolution.
Wir sollten niemals vergessen, dass hinter dieser Abwehrreaktion bestehender Meinungen gegen Andersdenkende - der Quelle von so viel Leid in der Geschichte und Gegenwart der Menschheit - nur eines steckt: der Egoismus der Meme.
2.4. Alan Turings Irrtum
Wir haben im ersten Teil des Buchs gesehen, dass sich Meme seit der Erfindung des Computers auch ohne menschliches Zutun weiterentwickeln können und damit die Verarbeitungsgeschwindigkeit des menschlichen Gehirns keine unüberwindliche Grenze mehr darstellt. Im vorigen Kapitel haben wir uns mit der Evolution der menschlichen Kultur, unserer Sprache, unserer Geschichten, unseres Bildes von Gott beschäftigt. Führen wir nun beide Sichtweisen zusammen und untersuchen die Frage, was passieren würde, wenn Maschinen ihre eigenen Ideen, ihre Kultur, ihre Sprache entwickelten.
Die Idee denkender Maschinen ist sehr alt. Bereits vor 2700 Jahren beschrieb Homer in der Ilias künstlich hergestellte Wesen, die wir heute zweifelsohne als Roboter bezeichnen würden. In der Moderne begann die Geschichte allerdings mit einem gigantischen Schwindel: 1770 konstruierte der Österreicher Wolfgang von Kempelen einen »mechanischen Türken«, der Schach spielen konnte und selbst meisterhafte Spieler schlug. 1809 verlor auch Napoleon gegen ihn. Tatsächlich war dies ein raffiniert entworfener Apparat, der von einem in seinem Inneren verborgenen kleinwüchsigen Menschen gesteuert wurde. Seine Konstruktion war so geschickt, dass der Betrug fast 50 Jahre unentdeckt blieb. Noch heute sagt man, etwas ist »getürkt«, wenn von einem Schwindel die Rede ist.
Intelligente, künstlich geschaffene Wesen finden sich in vielen Werken der Literatur - darunter zum Beispiel die jüdische Golem-Legende, Mary Shelleys »Frankenstein« und natürlich zahllose Science-Fiction-Romane. Doch erst mit der Erfindung des Computers rückte die Entwicklung einer künstlichen Intelligenz tatsächlich in greifbare Nähe.
Das Schachspiel blieb lange Zeit der ultimative Test für die Intelligenz einer Maschine - bis »Deep Blue« im Jahr 1996 zum ersten Mal den amtierenden Schachweltmeister Garri Kasparow schlug. Prompt wurde postuliert, dass Deep Blue ja »nur« stupide mögliche Züge durchrechne und in Datenbanken nach Stellungsmustern suche - das könne man schwerlich als
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