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Schöpfung außer Kontrolle: Wie die Technik uns benutzt

Schöpfung außer Kontrolle: Wie die Technik uns benutzt

Titel: Schöpfung außer Kontrolle: Wie die Technik uns benutzt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Olsberg
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wird es dabei schon aus juristischen Gründen leicht abgewandelt, also mutiert. Der Zuschauer selektiert dann mit seiner Fernbedienung, welche Variante ihm besser gefällt. So entwickeln sich in kurzer Zeit neue Sendungsformen, erfolgreiche Formate breiten sich sehr rasch aus, bis es zu einer »Überflutung« des Zuschauers kommt und er andere Konzepte selektiert, und so weiter.
    Das heutige Fernsehprogramm ist ein Ergebnis dieses kontinuierlichen Evolutionsprozesses. Wie erfolgreich er funktioniert, kann man an dem »unfreiwilligen« Fernsehkonsum der meisten Menschen sehen, die »eigentlich« etwas ganz anderes machen wollten.
    Die intensive Mensch-Maschine-Kopplung entsteht dabei durch ein Phänomen, das dem oben beschriebenen »Einswerden« mit Maschinen ähnelt. Die Filmprofis in Hollywood nennen es »the willing abandonment of disbe-lief«, zu Deutsch »das freiwillige Aufgeben des Unglaubens«. Gemeint ist damit, dass das Gehirn bereit ist, das Wissen darüber, dass ein Film nicht real ist, zu vergessen. Wir empfinden die Handlung eines Spielfilms so, als wäre sie Wirklichkeit und wir ein Teil davon. Wir fiebern mit den Kandidaten einer Game Show, freuen uns mit ihnen über ihre Erfolge und leiden mit ihnen bei Niederlagen, obwohl wir diese Menschen überhaupt nicht kennen. Manchmal springen wir vom Sessel auf und jubeln, weil Tausende Kilometer entfernt ein deutscher Fußballspieler ein Tor geschossen hat. Wenn der Schiedsrichter dann »Abseits« pfeift, obwohl es doch eindeutig keines war, brüllen wir ihn an und ignorieren dabei die Tatsache, dass Fernsehübertragungen trotz aller Bemühungen um Interaktivität in aller Regel nur in eine Richtung funktionieren.
    »Schuld« an diesem Verhalten sind wahrscheinlich spezielle Zellen in unserem Gehirn, die sogenannten Spiegelneuronen. Sie bewirken, dass wir buchstäblich »Mitgefühl« entwickeln: Wenn wir sehen, wie sich jemand verletzt, senden diese Zellen dieselben Reize aus, als wenn wir uns selbst verletzt hätten. Wir können den Schmerz des anderen buchstäblich fühlen und reagieren entsprechend, zum Beispiel mit einem schmerzverzerrten Gesicht oder sogar einem Aufschrei. Aus demselben Grund »versinken« wir in Büchern und fühlen, was erfundene Figuren, die aus nicht mehr als einem Haufen Buchstaben bestehen, angeblich empfinden.
    Gemessen an der Zeit, die wir mit ihm verbringen, ist das Fernsehgerät wohl das bisher erfolgreichste Produkt der memetischen Evolution. Doch folgt man der Meinung mancher Medienexperten, dann sind seine Tage gezählt.
    Denn ein neuer, noch mächtigerer »Paralysator« droht ihm den Rang abzulaufen. Er entführt uns in Welten, die noch viel bizarrer und buchstäblich fesselnder sind als Fernsehserien und Spielshows.
    Die Rede ist, wie könnte es anders sein, vom Computer.

2.6. Der Zauber der blauen Pille
    »Ich wähle die rote Pille«, sagt Neo, der Held des Films »Die Matrix«, in einer der berühmtesten Szenen der Filmgeschichte. Er entscheidet sich damit gegen eine künstliche Scheinwelt - im Film durch eine blaue Pille symbolisiert -und für eine trostlose, gefährliche Realität.
    Nachdem er die rote Pille geschluckt hat, erwacht Neo in ferner Zukunft in einem Alptraum: Maschinen haben die Menschen versklavt und sie in Tanks eingesperrt, um sie als bioenergetische Batterien zu nutzen. Damit die Menschen das nicht merken, gaukeln ihnen intelligente Computer eine Scheinwelt - die Matrix - vor, die exakt unserer heutigen Realität entspricht. Neo hat die Aufgabe, die Menschheit aus dieser Tyrannei zu befreien und die Herrschaft der Maschinen zu brechen.
    »Die Matrix« ist in vielerlei Hinsicht ein typischer Hollywoodfilm, dem es eher um Spezialeffekte und Action geht als um eine glaubwürdige Geschichte. Das Thema künstliche Realität ist auch schon mehrfach vorher filmisch umgesetzt worden, beispielsweise von Rainer Werner Fassbinder in »Welt am Draht«. Dennoch gelingt es der »Matrix« zumindest im ersten Teil, über das simple Hollywood-Strickmuster hinaus philosophische Fragen aufzuwerfen, die sich in der beschriebenen Szene verdichten: Die blaue Pille steht für ein sorgenfreies Leben in einer bequemen »virtuellen Realität«, die rote Pille für die unbequeme Wahrheit.
    Bezeichnenderweise entscheidet sich der Film-Böse-wicht, der beide Welten kennt, anders als Neo (der zu diesem Zeitpunkt noch nicht in der Realität war). Er schließt einen Pakt mit dem bösen Computersystem und bekommt dafür ein

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