Schöpfung außer Kontrolle: Wie die Technik uns benutzt
Veränderungsgeschwindigkeit unendlich wäre. Das ist offensichtlich unmöglich.
Im übertragenen Sinn ist mit »technischer Singularität« etwas anderes gemeint: Der Punkt nämlich, an dem wir Menschen die Kontrolle über die technische Entwicklung verlieren, an dem sich die memetische Evolution allein, ohne unser Zutun, vollzieht. Der Moment also, von dem an wir quasi nur noch danebenstehen und zusehen können, was die Maschinen machen.
Tatsächlich handelt es sich hierbei wohl nicht um einen konkreten Zeitpunkt, sondern eher um einen graduellen Übergang. Während heute in den Industriezentren der Welt hochautomatisierte Fabriken Computerchips herstellen können, deren Leiterbahnen nur noch wenige Atome breit sind, werden gleichzeitig in den armen Regionen der Welt primitive Arbeitsgeräte von Hand hergestellt. Während das Internet mit atemberaubender Geschwindigkeit wächst und die Weltwirtschaft von Grund auf verändert, gibt es immer noch viele Menschen, die gar nicht wissen, dass es existiert. Einige Ureinwohner in den Regenwäldern Asiens und Südamerikas leben weiterhin auf einem kulturellen Entwicklungsstand, der weitgehend dem der Steinzeit entspricht.
Matthias Horx erklärt diesen Umstand in »Technolution« damit, dass diese primitiven Kulturen in einem Zustand des Gleichgewichts leben, in dem sie die Technik einfach nicht brauchen. Dagegen spricht allerdings die Beobachtung, dass solche Kulturen moderne Technik sehr schnell aufnehmen, sobald sie damit in Berührung kommen. Die Kolonialisierung der Welt durch die Europäer in den letzten Jahrhunderten hat das deutlich gemacht. Wenn es heute noch »Steinzeitkulturen« gibt, dann nur deshalb, weil sie in absoluter Abgeschiedenheit leben und die moderne Technik noch nicht bis zu ihnen vordringen konnte. Auch in der Natur gibt es in unzugänglichen Regionen ökologische Nischen, die sehr lange unverändert geblieben sind und vom Wandel der Umgebung nicht betroffen waren.
Erinnern wir uns: Evolution ist nicht zielgerichtet. Sie strebt nicht von einfach zu komplex, von dumm zu intelligent, von langsam zu schnell und so weiter. Wie wir gesehen haben, sind wir Menschen nicht die Krone der genetischen Evolution, und Computer sind ebenso wenig die Krone der memetischen Evolution.
Meme, die einen Unternehmensgründer in Kalifornien zum Milliardär machen können, sind im Urwald von Borneo völlig nutzlos. Evolution schafft Vielfalt, und das bedeutet, dass es immer komplexere Technologien gibt, einfach weil sich die Spannweite zwischen »Einfach« und »Komplex« immer weiter vergrößert. Das Beispiel des Betrunkenen von Stephen Jay Gould hat das illustriert.
Die komplexen Technologien verdrängen die primitiveren Meme jedoch ebenso wenig, wie Menschen die Bakterien verdrängt haben. Viele Meme sterben aus, aber wahrscheinlich werden komplexe Maschinen auch nach hunderttausend Jahren technischer Evolution immer noch durch einfache Gewindeschrauben zusammengehalten.
Das bedeutet, dass es in Zukunft zwar technische Entwicklungen geben wird, die das Begriffsvermögen eines einzelnen Menschen - egal, welche Ausbildung er hat und wie klug er ist - weit übersteigen. Gleichzeitig wird es, solange es Menschen gibt, auch immer einfache, seit Jahrhunderten weitgehend unveränderte Werkzeuge wie Hammer und Nagel geben.
Das heißt jedoch nicht, dass die Menschen, die solche primitiven Technologien verwenden, von den Auswirkungen der komplexen Technologien verschont bleiben. Im Gegenteil: Die heutigen Urwaldvölker sehen ihren Lebensraum zunehmend durch Veränderungen bedroht, deren Ursachen sie nicht kennen und nicht verstehen können. Wenn diese Veränderungen sie schließlich erreichen, werden sie oft an den Rand gedrängt und müssen ein Dasein in Armut fristen. So ist es beispielsweise dem Pygmäenvolk der Batwa in Zentralafrika ergangen, die aus ihren angestammten Lebensräumen im Urwald verdrängt wurden und heute in Slums am Rande der Städte leben.
Eine perfide Gerechtigkeit wird vermutlich in den nächsten Jahrzehnten dafür sorgen, dass die Menschen in den Industrienationen in gewisser Hinsicht auf eine Erkenntnisstufe zurückfallen, die der in der Steinzeit ähnelt. Denn die ungebremste technische Evolution wird dazu führen, dass unser Verständnis der unmittelbaren Umwelt immer mehr abnimmt, bis wir unsere Welt auf ähnliche Weise wahrnehmen wie unsere entfernten Vorfahren die ihre: Ein Steinzeitmensch wusste, was er tun muss, wenn es regnete oder wenn
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