Schokoherz
dass ich mehr oder weniger pausenlos bei Clara gewesen war, seit ich das Café entdeckt hatte. Inzwischen unterhielt ich mich mit Clara mehr als mit irgendeinem anderen Erwachsenen. Das war ein ziemlich beängstigender Gedanke.
»Wann neulich? Als du gerade aus dem Eurostar gestiegenbist? Du bist doch erst angekommen, oder?« Sallys Tonfall hätte nicht eisiger sein können. Offensichtlich war ihr nicht klar, dass ich – ähnlich einem immergrünen Gewächs – absolut frostresistent war.
»Um ehrlich zu sein, kenne ich Clara ziemlich gut. Vielleicht noch nicht so lange, aber wir haben uns auf Anhieb prima verstanden. Ähnliche Interessen, vermute ich«, erwiderte ich mit einem strahlenden Lächeln. »Und sie kann toll mit Kindern umgehen. Ich habe das Gefühl, als sei sie schon immer da gewesen.«
»Clara? Ist das nicht der Laden, wo all die Pralinen im Schaufenster verstreut liegen? Und wo diese unfassbar unhöfliche Belgierin bedient?«, schaltete sich Rachel ein bisschen verspätet in die Unterhaltung ein.
»Ich gebe zu, Clara ist ein bisschen exzentrisch, aber sie hat das Herz am rechten Fleck«, verteidigte ich sie.
»Ich habe gehört, sie sei unglaublich. Braucht ewig zum Bedienen und wirft die Leute aus dem Laden, falls sie es wagen, sich zu beschweren«, tönte eine andere Frau in die Runde.
»Also, nun mal langsam ... Sie bemüht sich wirklich, und ist ja auch nicht mehr die Jüngste. Sie bräuchte einfach jemanden, der ihr hilft. Sonst ist sie klasse, eine echte Persönlichkeit«, hob ich an, doch mein Loyalitätsprotest ging in einer Flut von Geschichten unter, die Clara alle als enorm unhöflich darstellten, Geschichten darüber, wie sie zahlende Kundschaft zur Schnecke machte, Kindern gegenüber unerträglich feindselig war und sich insgesamt selbst sabotierte. All diese Tiraden ließen mich insgeheim einen endgültigen Entschluss fassen. Sobald ich konnte, würde ich Clara meinen Vorschlag unterbreiten. Und dann würden wir ja sehen, welches das schlechteste Schokoladengeschäftin Brüssel war, schimpfte ich innerlich vor mich hin.
»Hey, alle zusammen. Nun beruhigt euch mal. Ich finde, ihr solltet Bella ernst nehmen, denn mit Schokolade kennt sie sich aus.« Trudie tätschelte mir mit ihren professionell manikürten Fingern die Schulter. »Übrigens«, sie beugte sich vor, um mir rauchig ins Ohr zu flüstern. »Du solltest vielleicht mal nach dem jungen Master Oliver sehen. Er scheint diese schrecklichen Zwillinge zu foltern. Ich nehme Maddie solange.«
Ich sprang sofort auf. »Danke«, murmelte ich, während Maddie es sich mit einigen Beschwerden auf Trudies weniger gut gepolstertem Schoß bequem machte, und düste davon. Oliver hatte sich in Lolas Zimmer gemütlich eingerichtet. Er hatte den rot gekleideten Zwilling mit einem Paar von Lolas Strumpfhosen an einen Stuhl gebunden und den blauen mit Plastikhandschellen an den Pfosten des bezaubernden rosa-weiß bemalten Stockbetts gefesselt. O mein Gott. Sally würde uns beide umbringen. Das war wohl die denkbar schlechteste Methode, mich mit der Frau des aktuell wichtigsten Kontakts meines Gatten gut zu stellen. In Windeseile band ich das eine Kind los und suchte verzweifelt nach einem Werkzeug, um die Handschellen des anderen zu lösen. »Was ist denn los, Mummy?«, wollte Olli wissen, der still sein Werk und meine Versuche, es zunichtezumachen, betrachtete.
Ich warf ihm einen entnervten Blick zu. »Wie kriegt man die wieder ab?«, zischte ich und schwenkte eine Handschelle, wobei ich ungewollt den daran befestigten Zwilling mitzerrte.
»Das ist doch ganz einfach, Mummy.« Olli kam herüberund hatte den Zwilling innerhalb von Sekunden befreit. Der kleine Junge rieb sich gerade das wunde Handgelenk, wie es befreite Straftäter auf der ganzen Welt charakteristischerweise tun, als seine Mutter ins Zimmer stürmte. Die Szene war völlig harmlos: Ich saß auf einem gefährlich zierlichen Kinderstuhl und drückte meinen allerliebsten Sohn an mich (damit er nichts sagen konnte, was mich in Schwierigkeiten bringen könnte), während in sicherem Abstand Sallys Zwillinge mit ihren identisch zitternden Unterlippen ein Bild des Jammers abgaben. Ich rappelte mich rasch auf und scheuchte Oliver vor mir her. »Ich glaube, wir machen uns dann mal besser auf den Weg«, trällerte ich. Schließlich soll man das Spaßprogramm eines Vormittags nicht übertreiben.
Zu meiner großen Überraschung dauerte unsere Verabschiedung ewig. Statt freundlich zu winken
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