Schokoherz
wie in London, musste man hier eine komplizierte Prozedur von Wangenküsschen links und rechts durchlaufen, obwohl wir uns ja kaum kannten. Zumindest was das betraf, wenn auch sonst in keinerlei Hinsicht, hatten die Frauen die Gepflogenheiten des Gastlandes angenommen. »Du solltest den Göttern danken, dass du keine Belgier küssen musst. Denen muss man nämlich drei Küsse geben, einen auf jede Wange und einen als Glücksbringer«, erklärte Kachel. »Und hüte dich vor den Italienern. Die fangen nämlich rechts an statt links, so dass man ständig in der Mitte mit den Köpfen zusammen- knallt«, fügte Paula hinzu.
Ich lachte. Sie waren schon ein lustiger Haufen. Erleichterung darüber durchströmte mich, dass ich noch ein paar neue Leute kennengelernt und Kontakte geknüpft hatte. Es würde toll werden in Brüssel.
Undtrotzdem, was für eine seltsame Vorstellung, dass einem hier sogar das Küssen zum Fallstrick werden konnte. Nicht, dass das mit Tom zurzeit ein größeres Problem dargestellt hätte – er schien so viel zu arbeiten, dass ich mich schon glücklich schätzen konnte, einen Blick abzubekommen, von leidenschaftlicherem Kontakt ganz zu schweigen. Inzwischen war es normal geworden, dass ich schon auf dem Weg ins Bett war, wenn er endlich nach Hause kam.
Ich weiß noch, wie ich bei meinen Großeltern, die nur ein paar Straßen von meinen Eltern entfernt gewohnt hatten, einmal ein kleines Wetterhäuschen gefunden hatte. Eine kleine Frau mit rotem Schal kam heraus, wenn es sonnig war, und ein kleiner Mann mit blauem Hut, wenn es regnete. Der Mann befand sich auf der einen Seite der Drehachse und die Frau auf der anderen – es gab keine Möglichkeit, dass die beiden einander je begegneten und einen Regenbogen herstellten. Wurden Tom und ich gerade zu einem solchen Paar?, überlegte ich mir den Rest des Tages. Heute Abend war wohl eine Anhörung fällig. Ich blieb extra auf, um Tom von meiner Einführung in die Brüsseler Gesellschaft zu erzählen, falls er es doch noch von Den Haag nach Hause schaffen sollte. Mein Blick war schon ganz glasig, als auf BBC endlich die News At Yen kamen, was für mich wegen der Zeitverschiebung schon elf bedeutete. Ich kam zu dem Schluss, dass er sich wohl doch ein Hotelzimmer genommen hatte, und kroch ins Bett. Gerade als mein Kopf aufs Kissen sank, hörte ich unten Toms Schlüssel im Schloss. Er war zu Hause! Ich versuchte, dem Schlaf zu widerstehen, bis er nach oben kam, während ich lauschte, wie er unten zwischen Küche und Wohnzimmerhin und her ging. Irgendwann wurde mir klar, dass er es nicht eilig hatte. Es klang, als würde er es sich mit üppiger Getränke- und Snackauswahl vor Newsnight gemütlich machen. Ich seufzte. Wieder verloren. Scheinbar konnten meine Reize momentan mit denen von Jeremy Paxman nicht mithalten. Tom und ich würden heute zwar früher oder später im selben Bett landen, doch wir würden dabei körperlich und geistig so weit voneinander entfernt sein, als befänden wir uns an entgegengesetzten Enden unserer persönlichen Achse.
12
Wenn doch nur alles im Leben so einfach wäre wie der Gang zur Patisserie.
Am nächsten Morgen hatte ich meinen Groll vom Vorabend überwunden und stand wie immer in aller Herrgottsfrühe brav in der Schlange. Inzwischen war ich eine solche Stammkundin geworden, dass ich lächelnd in die Runde grüßte – komplizierte Kussprozeduren musste ich zum Glück noch keine absolvieren. Mitunter hätte ich allerdings gar nichts dagegen, dachte ich bei mir, als die Türglocke ertönte und der schneidige Geschäftsmann sich zu uns gesellte. Das hatte ich ja kaum zu hoffen gewagt. Im Gegenteil, ich hatte versucht, mir einzureden, es habe sich bei ihm um eine Fata Morgana gehandelt. So gut konnte kein Mann aussehen, oder?
Doch, liebe Leserin, er sah so gut aus. Im fahlen Morgenlicht schienen seine Züge noch markanter als beim. letzten Mal. In seinem exzellent geschnittenen Anzug, war er wie ein erwachsen gewordener, sexy Botticelli-Engel dessen Pausbacken sich in hagere, kantige Flächen mit Bartschatten verwandelt hatten.
Wie jedes andere weibliche Wesen in seinem Umfeld bemühte ich mich um mein kokettestes Lächeln, und aus irgendeinem Grund war dieses Mal tatsächlich ichdie Glückliche. Er begegnete meinem Blick. Er lächelte mich an! Prompt verspürte ich ein unfreiwilliges Kribbeln, das ausnahmsweise nichts mit einem Blech voll frisch gebackener pains au chocolat zu tun hatte. Wir schoben uns zentimeterweise
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