Schokoherz
betrachten.« Sally ließ die beiden los und musterte mich von Kopf bis Fuß.
»Tut mir leid, Sally, aber du bist der einzige Mensch auf der Welt, der sie auseinanderhalten kann. Hat gar keinen Sinn, dass ich das überhaupt versuche.« Trudie schien die Schelte nichts auszumachen.
»Quatsch, absoluter Quatsch. Wir ziehen doch immer extra einen in Rot und einen in Blau an, um es den Leuten leichtzumachen«, grummelte Sally.
»Schon. Aber welcher ist nun rot und welcher blau? Nein, lass gut sein. Da ich nicht die Mutter bin, fangen wir gar nicht damit an. Das ist übrigens Bella, neu in Brüssel. Unsere Aufgabe ist es, sie mit allen belgischen. Besonderheiten bekannt zu machen.« Mit diesen Worten führte sie uns Richtung Kaffee in die Küche. Kaum waren wir dort angekommen, bimmelte es schon wieder, und so ging es weiter, während ein stetiger Strom vonMüttern auftauchte, entweder mit winzigen Babys im Arm oder Kleinkindern an der Hand, die so schnell wie möglich das Weite suchten. Das letzte Ding-dong bescherte uns eine gertenschlanke, junge, dunkelhaarige Frau, deren dünnes Unterärmchen unter der Last eines Maxi-Cosi-Autositzes fast zu zerbrechen schien. Darin hockte das größte buddhaähnliche Baby, das ich je zu Gesicht bekommen hatte. Es schlief, wobei sein kleiner Schmollmund leicht vor sich hin mümmelte, als würde es vorn Stillen träumen. Die Brünette stellte den Sitz ehrfürchtig ab, und wir alle beäugten den Insassen.
»Ist er nicht zum Anbeißen?«, gurrte seine Mutter. Einen Augenblick lang herrschte Schweigen, bevor zustimmendes Gemurmel ertönte, das sie sofort mit einem »Pssst!« quittierte. »Ich habe ewig gebraucht, bis er endlich eingeschlafen ist. Also seid bitte alle still!«
»Rachel, nun krieg dich wieder ein. Wir sind hier, um uns zu unterhalten – nicht um Stanley anzustarren, so göttlich er auch sein mag.« Trudie verdrehte hinter Rachels Rücken die Augen. »Stell ihn doch einfach in den Hauswirtschaftsraum. Dort hören wir ihn immer noch, falls er aufwacht.« Damit schob sie das Mädchen und ihr Riesenbaby durch die Tür.
»Ich bin übrigens Bella, Trudies neue Nachbarin. Wir sind gerade erst hergezogen und ich bin wirklich dankbar für Tipps jeglicher Art ...« Ich lächelte alle der Reihe nach an und erntete einige Erwiderungslächeln. In Gedanken versuchte ich, die Gesichter vor mir zu sortieren und zuzuordnen. Die meisten waren zwischen dreißig und vierzig, attraktiv und irkten intelligent – Frauen wie Sie und ich, kann man wohl sagen. Ich hatte ja ein bisschen Sorge gehabt, dass TrudiesPerfektion hier die Norm war, doch in Wahrheit stellte sie die Ausnahme dar. Eine einsame Chardonnay-Flasche in einem Sammelsurium von Tafelweinen. Das soll aber nicht heißen, dass diese netten neuen Freundinnen alle ganz normal gewesen wären, wie ich rasch herausfand.
»Tipps? Der beste Tipp, den ich dir geben kann, ist die Nummer meines Anwalts«, ließ sich eine nervös wirkende Frau mit baumelnden Ohrringen vernehmen, während sie in ihrer Handtasche herumwühlte.
»Nein, Ruth, meiner ist besser – du hattest doch dieses Theater mit den hohen Rechnungen, weißt du nicht mehr, und meiner hat mir eine gute Sorgerechtsregelung ausgehandelt«, wurde sie von einer kurzgewachsenen Frau mit Wickeltop unterbrochen. Du meine Güte. Aber schließlich hatte Trudie mich vorgewarnt, dass Scheidungskriege hierzulande der beliebteste Sport der Briten waren.
Trotzdem ließ ich mich dadurch nicht von meiner Suche nach richtigen Tipps abbringen.
»Aber was macht man zum Beispiel, wenn man mal was Besonderes kochen will? Gibt es hier denn gute Märkte?« Ich blickte in die Runde. Lauter fragende, wenn nicht gar offen missbilligende Gesichter.
Ich versuchte es erneut. »Ich koche eben recht gerne und habe irgendwie erwartet, dass dieses Land hier mit seinen kulinarischen Genüssen vielleicht den einen oder anderen interessanten Markt bietet. So wie den Marché Richard-Lenoir in Paris zum Beispiel, in der Nähe vom Place de la Bastille.« Ich befand mich zwar in einem fremden Land, aber so langsam beschlich mich das Gefühl, als würde ich auch eine fremde Sprache sprechen. Ich starteteeinen allerletzten Versuch: »Gibt es spezielle Viertel für bestimmte Arten von Lebensmitteln?«
Trudies Gesicht blieb ausdruckslos. Von ihr hatte ich allerdings auch keine Hilfe erwartet, da ich inzwischen wusste, dass sie an Hungerstreik so gewöhnt war ein Insasse des Maze-Gefängnisses. Aber ein paar der
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