Schokoherz
Das hieß, wenn ein Fahrzeug aus einer Seitenstraße kam, hatte es Vorfahrt vor den Fahrzeugenauf der Hauptstraße, solange – und das war der entscheidende Punkt – der Fahrer an der Kreuzung nicht zögerte. Jedem Kind ist klar, dass dies den denkbar rücksichtslosesten Fahrstil förderte. Kleine alte Damen sausten in winzigen Fahrzeugen wie Wahnsinnige auf Hauptstraßen hinaus, um ja nicht eine Sekunde lang anhalten zu müssen. Aber das war nun mal geltendes Recht. Leider gab es im Straßenverkehr so viele Nicht-Belgier, dass niemand sich ganz sicher war, ob diese Regel wirklich immer galt. Also neigten jede Menge hasenfüßiger Ausländer an Kreuzungen zu zögerlichem Verhalten, während die Einheimischen einfach drüberbretterten und natürlich unausweichlich in jemanden hineindonnerten, der erst vergangene Woche angekommen war.
Entsprechend langsam krochen wir also die Straße entlang und bogen – kurzes Atemanhalten – ohne größere Vorkommnisse auf eine Hauptstraße ein. Nach ungefähr fünf Minuten Vorsicht hatte ich den Bogen raus und nach weiteren fünf Minuten einen Supermarkt gefunden. Auf dem Parkplatz packte ich beide Kinder in den Einkaufswagen. Maddie in den eingebauten Kindersitz und Olli in den Wagen selbst. Jetzt passten zwar kaum noch Lebensmittel hinein, aber so würden wir am schnellsten vorankommen. Schließlich brauchten wir bloß einige Grundnahrungsmittel, und ich besaß ja auch noch keine Tüten, um die Waren einzupacken. Der wichtigste Teil unserer Einkaufsmission war natürlich die Erkundung des Schokoladenangebots.
Als ich in den entsprechenden Gang einbog, befiel mich der Eindruck, die Pforte zu einem heiligen Ort aufzustoßen. Still und beinahe verlassen, fern des Getümmelslag er da. Seine nachdenkliche, ernste Atmosphäre passte so gar nicht zum Rest des geschäftigen Supermarktes, der sich, ganz ehrlich, überall auf der Welt hätte befinden können. Auch hier stritten sich Hausfrauen um Joghurts im Sonderangebot. Doch dieser Gang war vollkommen anders als jegliche Süßwarenabteilung in England. Die strotzen meist nur so vor grellen Verpackungen, mit denen die Aufmerksamkeit der Unterfünfjährigen geweckt werden sollte. Nein, hier ging es eindeutig um Erwachsene. Bald wurde mir klar, dass mir da keine leichte Aufgabe bevorstand. Sie ähnelte ein wenig einer Prüfung. An welches Wissen, das ich mir im Internet angelesen hatte, konnte ich mich noch erinnern? Würde ich mich für einen typisch belgischen Hersteller wie Côte d'Or entscheiden oder doch eher für Callebaut, die, wie ich wusste, beachtliche fünfzehn Prozent des weltweiten Kakaobohnenvertriebs kontrollierten? Wollte ich fondant, der belgische Name für Bitterschokolade, oder gelüstete es mich nach beruhigender Vollmilch? Welchen Kakaoanteil strebte ich an? Lag meine Marke zum Beispiel bei zweiunddreißig Prozent oder sehnte ich mich nach einer kräftigeren Fünfzig-Prozent-plus-Erfahrung? Würde ich es wagen, bis zu siebzig Prozent hinaufzugehen? Ich hätte vermutlich den ganzen Tag dort stehen können, um all das optisch in mich aufzunehmen, während ich mir wünschte, es stattdessen tatsächlich zu essen. Doch die Kinder wurden unruhig. Wie erwartet, wollten sie beim Anblick dieser Köstlichkeiten ebenfalls ein Stück abhaben, was Oliver dadurch unterstrich, dass er im wackeligen Einkaufswagen aufstand. Also griff ich ein paarmal zu, stopfte die Tafeln rasch inmeine Manteltaschen, wo sie vor kleinen Kinderhänden relativ sicher sein sollten, und arbeitete mich zu den profaneren Abteilungen vor: Biowürstchen, Käse, Milch, Obst und Gemüse, dieselbe Sorte Joghurt wie überall und all die anderen Dinge, welche die Zeit zwischen Schokogenüssen füllten. Erfreut entdeckte ich in einem Regal einen Brüssel-Reiseführer sogar auf Englisch. An der Kasse wurde ich wieder von Nervosität überfallen, denn ich sah, dass Trudie recht gehabt hatte: Jeder brachte seine eigenen, fein säuberlich gefalteten, wiederverwendbaren Taschen mit. Nirgends war eine billige Supermarktplastiktüte zu sehen. Panisch blickte ich mich um, bis mein Blick auf einen leeren Karton fiel, der einst Dosen mit weißen Bohnen enthalten hatte. Dorthinein stapelte ich unsere Einkäufe und erinnerte mich zum Glück rechtzeitig an die Schokolade in meinen Taschen, wodurch ich knapp einer Ladendiebstahlsanzeige entging. Dann hatten wir es geschafft. Ich schwor mir, vor dem nächsten Einkaufstrip in einer stillen Stunde den Satz »Kann ich bitte
Weitere Kostenlose Bücher