Schokoherz
Barber. Mit ausdrucksloser Miene betrachtete Trudie das Coverfoto und ließ das Buch dann wieder in den Karton fallen. »Sie haben davon ja eine ganze Menge«, bemerkte sie leicht verächtlich, als seien Bücher exzentrische Gegenstände, mit denen sie bisher noch nie zu tun gehabt hatte. Ich versuchte, das alles mit ihren Augen zu sehen: Chaos pur. Ohne Zweifel war Trudies Haus bereits perfekt eingerichtet – und bücherfrei. Ich würde es zu gerne sehen. »Warum kommen Sie nicht später bei mir vorbei?«, fragte sie, als hätte sie meine Gedanken erraten, und schnappte sich ihre Minihandtasche. »Damit Sie hier mal ein bisschen rauskommen.«
»Sehr gern«, erwiderte ich. »Ich bringe die Kinder mit – dann können Sie sie kennenlernen.«
»Sie klingen zumindest sehr beeindruckend«, meinte sie lächelnd und beantwortete damit indirekt meine Frage, wie wohl die Nachbarschaft auf unsere Ankunft reagierte. »Keine Sorge, meine Tochter wird begeistert sein«, fügte sie hinzu. »Bis später dann.« Als sich die Haustür hinter ihrer winzigen Gestalt geschlossen hatte, wurde mir klar, dass Trudie der erste Mensch in meiner Bekanntschaft war, der tatsächlich von dannen gleiten konnte.
In diesem Moment kam Tom die Treppe heruntergepoltert, frisch rasiert und in einer dicken Wolke Aftershave. Wenn mich nicht alles täuschte, hatte er extra seineGeburtstagsflasche Dior angebrochen. Er sah sich um und wirkte dabei ein wenig wie ein Hund, der einen Knochen erwartet. Und genau wie der Hund nach und nach sein Schwanzwedeln einstellt und mit großen, triefenden Augen traurig dreinblickt, sank Tom enttäuscht in sich zusammen, als er begriff, dass er zu spät kam.
»Trudie ist schon weg«, sagte ich leichthin.
»Oh! Oh«, machte Tom. »Das wusste ich doch.« Dann bedachte er mich mit einem verlegenen Kleinjungenlächeln, und ich verzieh ihm alles.
»Die sieht ganz schön klasse aus, was?«, fragte ich.
»Meine Schöne, dir kann sie nicht das Wasser reichen«, erwiderte er brav, bevor er mich in die Arme nahm und nachdrücklich küsste. Das war schon besser. Bevor das Ganze zu innig wurde, löste er sich widerwillig und sah sich erneut um, diesmal nach den Kindern. »Ich gebe ihnen auch noch schnell einen Kuss, und dann sollte ich besser los.«
»Los? Wohin?«, erkundigte ich mich verblüfft, während ich mit ihm in den Garten hinausging, wo die Kinder immer noch in voller Lautstärke zugange waren.
»Zur Arbeit, Bella. Irgendwann muss ich doch anfangen.« Tom zog eine Augenbraue hoch.
»Ach, zur Arbeit.« Ich klang untröstlich. Das hatte ich fast vergessen. Ja, klar, das war schon recht wichtig. Schließlich war das der Grund, weshalb wir überhaupt in Brüssel waren. Doch wie schade, dass wir nicht alle gemeinsam hier bleiben und diesen Urlaub von der Welt ein wenig länger genießen konnten. Ich selbst fühlte mich so viel besser, seit ich nicht mehr arbeiten ging, förmlich befreit von jeglicher Verantwortung. Doch die Realitätmusste uns ja früher oder später einholen. Jemand musste die Kröten verdienen, sonst würden wir demnächst gewaltig in der Patsche sitzen.
»Ach, Bella – du solltest unbedingt einkaufen gehen«, sagte Tom im Gehen, nachdem er den Kindern je einen dicken Schmatz gegeben hatte. Er hatte recht. Unsere mitgebrachten Vorräte waren schon fast aufgebraucht. Wenn wir hier nicht verhungern wollten – was ich definitiv nicht vorhatte, schließlich befanden wir uns im Schokoladenland – würde ich mich Brüssel, dem neuen Auto und einem Supermarkt stellen müssen, mit oder ohne Tüten.
Zum ersten Mal in einem Auto mit dem Lenkrad auf der falschen Seite zu sitzen war ganz schön abenteuerlich – nicht zuletzt, weil es mir eine völlig andere Aussicht auf meine Sprösslinge gewährte, die mit wippenden Füßen in ihren Kindersitzen saßen. Früher hatte ich im Rückspiegel immer Maddie gesehen, die meist nach etwa fünf Nanosekunden im Auto tief schlummerte, wobei ihr für gewöhnlich ein langer Speichelfaden aus dem halbgeöffneten Mund tropfte. Auf der anderen Seite bot sich mir nun ein ebenso ansprechendes Bild: Olli, der mit verzerrtem Gesicht so tat, als würde er jeden unschuldigen Passanten mit seinem unsichtbaren Maschinengewehr niedermähen.
Abgesehen von der veränderten Rücksitzperspektive bestand der größte Unterschied darin, dass es hier offenbar keine Verkehrsregeln gab. Nun, es gab eine Regel, die so absurd war, dass sie mir vorkam wie ein Witz: Die priorité a droite.
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