Schokoherz
sie in die Küche. Der Effekt, den ihr Erscheinen auf Tom hatte, war äußerst amüsant: Er senkte seine Financial Times einen Millimeter in der Erwartung, mich zu sehen, erhaschte stattdessen einen Blick auf Trudie und warf die Zeitung vor Schreck förmlich über die Schulter. Dadurch gewährte er ihr freie Sicht auf seinen uralten Bademantel, der wiederum das Loch im Schritt seines gestreiften Schlafanzugs freigab, das ich schon lange hatte flicken wollen. Irgendwie war ich nie dazu gekommen. Nun, es war Toms Schuld. Er bestand darauf, diese gestreiften Schlafanzüge zu tragen, was ich den zehn Jahren Altersunterschied zwischen uns zuschrieb. Ich kannte wirklich absolut niemanden – keinen Exfreund, keinen Bettgenossen von Louise, ja nicht einmal meinen Vater –, der je in einem gestreiften Schlafgewand gesichtet worden wäre. Doch Tom und eine schrumpfende Gruppe Ururgroßväter hielten das Gewerbe mit altmodischen Schlafanzügen am Leben. Heute jedenfalls bereute er diesen Umstand sichtlich. Er sprang wie von der Tarantel gestochenvon seinem Stuhl und zurrte seinen Bademantel, so fest er konnte, um sich, wodurch er eine absurde Wespentaille bekam. Vor Charme nur so sprühend, bot er Trudie seinen Stuhl an und tänzelte umher, um ihr einen Kaffee zu servieren. Dabei ignorierte er die völlig zerfledderte Zeitung, die jeden Zentimeter Boden bedeckte, als würde er jeden Morgen um diese Zeit mit der Financial Times um sich werfen.
Als Trudie am Tisch Platz genommen hatte und er ihr nichts weiter bringen konnte, fiel ihm etwas verspätet sein schäbiges Schlafanzugensemble wieder ein, und er eilte von dannen, um sich zu rasieren und rundum präsentabel zu machen. Sobald er weg war, rollte ich mit den Augen. Trudie bemerkte meine Grimasse und lachte lauf auf. Ein wunderbarer, tiefer, rauchiger Klang.
Ich lächelte. Sie war wohl doch eine verwandtere Seele, als ich gedacht hatte. Es hieß ja immer, man solle die Leute nicht nach ihrem Äußeren beurteilen. Ich hoffte sehr, Trudie würde sich als eine Art Werthers Echte herausstellen: außen hartglasierte, glänzende Perfektion mit köstlicher Süße darunter, auf die man stieß, sobald man ein wenig Arbeit investiert hatte. Geschäftig sammelte ich die Zeitungsteile ein und wollte sie gerade in den Mülleimer stopfen.
»Oh, das sollten Sie besser nicht tun«, warnte mich Trudie.
»Warum, wollen Sie sie noch lesen?« Ich hielt ihr das zerknüllte Papier hin.
»Sind Sie wahnsinnig?«, bellte sie und schreckte vor der FT zurück, als sei sie radioaktiv verseucht. »Nein, aber Sie müssen hier recyceln. Sonst kriegen Sie Ärger mit der Gemeinde.«
»Recyceln?Gemeinde?« Ich ließ mich auf einen Stuhl sinken und sah sie fragend an. Hätte sie mir erzählt, die Einheimischen trügen alle Knochenschmuck an der Nase, hätte ich nicht faszinierter sein können.
»So ist es«, meinte Trudie lächelnd. »Und wagen Sie es ja nicht, ohne Ihre eigenen Plastiktüten in den Supermarkt zu gehen. Schwerer Fehler.«
Ich war hingerissen. Endlich ein Land, das die nicht biologisch abbaubaren Platiktüten so sehr verabscheute wie ich. Es gab nur ein Problem: »Ich habe keine Tüten mitgebracht.« Ich runzelte besorgt die Stirn.
»Dann viel Spaß beim Einkaufen«, krächzte sie. »Keine Sorge, meine Liebe, ich such Ihnen ein paar als Willkommen-in-Brüssel-Geschenke aus.«
»Wie lange sind Sie denn schon hier?«
»Seit Ewigkeiten. Am Dienstag sind es drei Monate. Aber ich mache das ja nicht zum ersten Mal. Und Sie?«
»Wie bitte? Was machen Sie nicht zum ersten Mal?«
»Ach, auswandern. Wir ziehen permanent um. Singapur, Dubai, Berlin, was Sie wollen. Nach einer Weile gewöhnt man sich so daran, dass man im Schlaf packen und auspacken könnte.«
Ich musste an den Kraftakt denken, der nötig gewesen war, um unser Leben in zwei Lastwagen zu verfrachten, die am Ende so voll gewesen waren, dass ich fürchtete, die Türen würden wieder aufspringen. Ich betrachtete Trudie mit neuen Augen. Konnte man wirklich ein Leben führen, dass sich so einfach zusammenfalten und wieder ausschütteln ließ wie ein Kleid von Fortuny?
Trudie inspizierte in der Zwischenzeit meine hübschen De-Morgan-Töpfe, die sich noch auf der Arbeitsplattestapelten, weil ich bisher keinen Platz für sie gefunden hatte. Außerdem standen überall Kisten herum. Sie öffnete die eine oder andere, nahm ein paar Bücher heraus und blätterte das oberste durch. Es handelte sich um eine Interviewsammlung von Lynn
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