Schokoherz
die unberührten Weiten des Raumes sprach Bände. Nun wusste ich auch, wie ihr diese makellose Ordnung gelang. Spielzeug verboten. Sie signalisierte Lola jedoch tapfer, ein paar Sachen für das Baby zu bringen, und bald waren die beiden friedlich damit beschäftigt, eine Bratz-Puppe zu begutachten, die ein Ensemble aus Lous abgetragenen Kleidern anzuhaben schien: einen superkurzen Minirock, natürlich keine Unterwäsche und ein Stretchoberteil aus Spitze, das lediglich eine ihrer schimmernden Plastikbrüste bedeckte. Aber Moment mal, da fehlte doch außer anständiger Bekleidung noch etwas! »Mein Gott, das arme Ding ist ja amputiert! Ist sie eine Landminen-Puppe oder so was?« Entsetzt nahm ich die Puppe in die Hand und sah mir ihre Beinstumpen an.
»Was? Nein, nein«, erwiderte Trudie und warf ihren Pferdeschwanz über die Schulter. »Die haben abschraubbare Füße. Enorm praktisch. Ich verstehe einfach nicht, warum Menschen nicht auch so gemacht sind, vor allem im Hinblick auf Jimmy Choos.« Trudie lächelte ihre Tochter an, die weise nickte und ihre eigenen kleinen glänzenden Schuhe betrachtete, als wünschte sie, sie würden sich in abschraubbare lila Plateausohlentreter verwandeln. Lola war wirklich ein absolutes Goldstück, wie sie da auf dem Fellteppich saß und liebevoll mit meiner Madeleine spielte. Sie blieb sogar freundlich und geduldig, als die Kleine ihre offensichtlichgeliebte Bratz-Puppe durchs Zimmer schleuderte. Trudie hatte bei ihrer Tochter wirklich ganze Arbeit geleistet.
Doch wie sah es mit Trudie selbst aus?, fragte ich mich. Ich versuchte, sie nicht allzu auffällig anzustarren. Von den sorgfältig in Form gezupften Augenbrauen bis hin zu den im »French Look« pedikürten Zehennägeln (wer, bitte schön, hat Zeit, sich dermaßen aufwendig die Zehennägel zu lackieren?) ähnelte sie selbst verdächtig einer Bratz-Puppe – abgesehen davon, dass sie vermutlich irgendeine Art von Unterwäsche trug und ihre Füße zweifellos echt waren, auch wenn sie sich auswechselbare Exemplare wünschte, die man am Knöchel einhaken konnte.
In einer Million Jahren würde es mir nicht gelingen, so auszusehen, selbst wenn ich Schokolade und fast jede andere Form von Nahrung aufgeben und vier-oder fünfmal am Tag trainieren würde. Während ich da so saß, wurde mir plötzlich klar, dass ich Trudie nicht gerade wohlwollend beurteilte. Aber das war unfair. Schließlich kannte ich sie kaum – und außerdem, wie konnte ich mir anmaßen, ihre Entscheidungen zu kritisieren?
»Worüber denkst du nach?«, riss mich Trudies tiefe Stimme plötzlich aus meinen Gedanken.
»Bloß übers, äh, Sporttreiben«, antwortete ich lahm.
»Das ist ganz schön ätzend, nicht war? Ich hasse Sport. Aber wir haben keine Wahl. Man muss hart an sich arbeiten, um das Beste zu erhalten. Das habe ich schon vor Jahren akzeptiert.«
»Aber musst du das denn wirklich? In Form bleiben und so? Wenn es doch eine Qual ist, meine ich.«
Trudies Gesichtausdruck wechselte von ungläubig zuüberrascht, und schließlich leuchtete Erkenntnis auf. »Ah, jetzt gehst du den Dingen auf den Grund. Philosophisch und so.« Sie sah mich fragend an, und ich nickte.
»Ich sollte wahrscheinlich sagen, dass ich's für mich tue, dass ich gerne fit bin und mich durch Bewegung gut fühle. Irgendetwas in der Art?« Sie zog eine Augenbraue hoch, und ich nickte wieder.
»Das sagen die Leute jedenfalls meistens.« Ich zuckte mit den Schultern.
»Vielleicht geht es manchen Leuten ja auch so. Mir jedenfalls nicht. Ich tue es nur, damit mein Mann mich nicht verlässt.«
Ich sah sie verdattert an. »Aber du siehst doch hinreißend aus. Warum sollte er dich verlassen?«
»Nun, er bleibt bei mir, solange ich hinreißend aussehe«, erklärte sie mir geduldig. »Aber wenn ich mit dem Sport aufhören würde, Cellulitis bekäme, Falten, Augenringe, Pickel, gelbe Zähne, ungefärbte Haare, eine Brille, Spliss ...«
Ich erschauerte. Das war wirklich keine besonders reizvolle Vorstellung. Aber, halt, die Zeiten, in denen nur Äußerlichkeiten zählten, waren doch sicher vorbei? »Geht es nicht um ein bisschen mehr als das? Sollte er dich nicht wegen deiner Persönlichkeit lieben und nicht aufgrund deines Aussehens?«
Trudie lachte lang und tief und rau, wie der böse Wolf, nachdem er die Großmutter verspeist hat. »Hör zu, ich habe nie versucht, mich als vielschichtige Persönlichkeit zu verkaufen. Die Männer bekommen das, was sie sehen – und das bedeutet für
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