Schokoherz
benachbarten Ghettoblaster um die Wette kreischen können, mit dem lauthals streitenden Paar einige Türen weiter, dem 6.10-Uhr-Zug nach Charing Cross, dem Nachtflug nach Teneriffa und sogar mit der U-Bahn zum Fulham Broadway. Hier zerschnitt jeder markerschütternde Schrei ein Vakuum perfekten Friedens. Hoffentlich würden die Nachbarn nicht zu sehr leiden – heimlich hoffte ich jedoch, sie würden sich bald beschweren kommen, damit wir sie kennenlernen konnten.
An jenem ersten Morgen im neuen Heim überlegte ich lange, was ich zum Frühstück machen sollte. Olli und Maddie hatten in Windeseile ihre Toasts verdrückt und machtenbereits den Garten unsicher: Maddie schlug zwei Holzblöcke zusammen und sang dabei so schief, dass selbst ihre verliebte Mutter keine Melodie erkennen konnte. Oliver rannte derweil kreischend im Zickzack hin und her wie einer dieser Laserstrahlen in Mission Impossible. Tom und ich saßen halbwegs zufrieden zwischen Umzugskartons und Krümeln. Ich war in Gedanken versunken, er in die gestrige Financial Times, als es mit einem sonoren Ding-dong an der Tür klingelte.
»Meine Güte! Das müssen die Nachbarn sein.« Ich sprang auf und stellte fest, dass ich – was auch sonst – immer noch meinen löchrigen rosafarbenen Bademantel trug. Ich war mir nicht sicher, ob Belgien schon bereit war für abgewetztes Frottee. »Gehst du?«, bat ich Tom hoffnungsvoll. Er ließ die Zeitung einige Zentimeter sinken und warf mir einen »Seh ich so aus?«-Blick zu.
Ding-dong läutete es ein zweites Mal. Also blieb mir wohl nichts anderes übrig.
Ich hätte mir keine Sorgen machen brauchen. Selbst wenn ich seit Morgengrauen auf gewesen wäre und von Augenbrauen bis Fußnägel alles poliert hätte, um schließlich in mein Abendkleid zu schlüpfen und mir als Zugabe eine Sobranie anzuzünden, hätte ich niemals mit der Vision vor der Tür mithalten können. Das Wesen dort draußen reichte gerade mal bis kurz über den Türknauf und wäre früher wohl als »Taschen-Venus« bezeichnet worden.
Ich stand da und blinzelte. »Halloho«, brummte die Vision. Ihre Stimme war so tief, verraucht und spöttisch, dass sie unmöglich diesem winzigen, zarten Körper vor mir entspringen konnte. »Ich bin Ihre Nachbarin, Trudie.Trudie Price. Von zwei Häuser weiter?« Sie hob perfekt gebogene Augenbrauen und warf ihr perfekt getöntes Haar zurück – natürlich war es blond, was auch sonst.
Ich wünschte, ich könnte behaupten, dass ich Trudie auf Anhieb ins Herz schloss. Tat ich natürlich nicht. Wie die meisten Frauen auf der Suche nach einer besten Freundin hätte ich jemanden ausgewählt, der mich ergänzte – nicht jemanden, der so offensichtlich gegensätzlich war. Obwohl ich nie ein Problem mit meinem Äußeren hatte und weiß, dass ich eine attraktive Frau bin, habe ich nun mal diese kleine Schwäche für Schokolade, und das wiederum hat ... Konsequenzen. Ja, ich bin nicht mehr das schlanke Mädchen mit Kleidergröße 36 von einst. Ehrlich gesagt habe ich vermutlich seit meinem achten Lebensjahr nicht mehr in Größe 36 gepasst. Wie Trudie und ich so nebeneinanderstanden, fühlte ich mich ein wenig zu sehr an Dick und Doof erinnert.
All das schoss mir durch den Kopf, während ich Trudie anstarrte, die im grellen Morgenlicht so makellos aussah wie eine Porzellanpuppe. Instinktiv griff ich nach meinem Bademantel und zurrte ihn noch ein wenig enger um meine üppige Oberweite, als wolle ich mich gegen die Besucherin wappnen. Denn eines war mir völlig klar: Es gibt Frauen, die sind von Natur aus dünn. Dann gibt es welche, die Jo Pounces dieser Welt, die Sport treiben, weil sie einfach bewegungshungrig sind. Und dann gibt es welche, die Dünnsein als Beruf betrachten. Aus irgendeinem Grund – weiß der Geier, warum – sind sie felsenfest davon überzeugt, es sei wichtig, dünn zu sein. Trudie fiel in diese letzte Katego rie.Ich wusste sofort, sollte ich mich auf sie einlassen, würde sie noch viel kritischer als meine liebe Louise jede Kalorie bewerten, die sich den Tag über so auf meine Zunge verirrte.
Andererseits, und ich warf schnell einen Blick die Straße hinauf und hinunter, um auch ganz sicher zu sein, kannte ich sonst niemanden in Brüssel. Keine Menschenseele. Und Trudie schien Englisch zu sprechen. Also holte ich kurz Luft, beugte mich dem Unausweichlichen und lud sie in mein Zuhause – und mein Herz – ein.
»Hallo, ich bin Bella. Wie nett, Sie kennenzulernen. Kommen Sie doch rein.« Ich führte
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