Schokoherz
voneinander ab. Es ist traurig, wie sich der Fokus verschiebt. Ich glaube, Männer bemerken das schneller als Frauen. Um ehrlich zu sein, hätte Tom sich an den meisten Abenden selber in Brand stecken können und ich hätte es nicht einmal wahrgenommen, so besessen war ich von Oliver.
Die Wochen verstrichen, und im Büro wurde es ruhiger. Nach ihren anfänglichen Sticheleien schien Denise Olivers Existenz völlig vergessen zu haben, und ich durfte an den meisten Tagen im Großraum London bleiben. Ich achtete sorgfältig darauf, sämtliche Babyfotos entweder im Portemonnaie oder in meiner obersten Schreibtischschublade aufzubewahren, und wurde ein Meister darin, mich früh davonzuschleichen. Dazu versteckte ich meine Jacke in einer der Toilettenkabinen, welche sich direkt neben den Aufzügen befanden, die in die Freiheit führten. Dann spazierte ich aus dem Büro und tat so, als würde ich jeden Moment zurückkommen. Die Prozedur des Jacke-von-der-Stuhllehne-Nehmens wirkte nämlich immer wie ein rotes Tuch auf Denise. Warum sie es hasste, wenn ich ging? Nun, weil ich zu ihren Untergebenen, Verzeihung, ihrem Team gehörte. Theoretisch konnte zu jeder Zeit eine brandheiße Sache reinkommen. Einer Vorabendserienschauspielerin könnte beispielsweise ein Nagel abbrechen. In dem Fall müsste ich aus dem Stand zweitausend Wörter zum Thema falsche Nägel verfassen:Warum sie einen immer imStich ließen. Oder: Warum kurze Nägel die neuen langen Nägel sind. Oder: Ihre Nägel – ruinieren sie Ihnen das Leben?
In der Praxis wussten wir beide, dass so eine brandheiße Nachricht so gut wie nie über den Ticker lief. Der wahre Grund, weshalb Denise mich vor Ort haben wollte, hatte gar nichts mit Arbeit zu tun. Es ging um die Einstellung. Journalisten, muss man wissen, gehen nämlich nicht nach Hause. Wussten Sie das nicht? Sie gehen lieber irgendwohin, in eine Bar, ein Restaurant, eine Kneipe, einen Club, nur um den Tag nicht enden lassen zu müssen, um so lange wie möglich weiterdiskutieren und weiterarbeiten zu können. Doch nachdem ich Oliver hatte, war das bei mir nicht mehr der Fall. Ich musste nach Hause, nicht nur, damit die Kosten fürs Kindermädchen nicht jeden Penny auffraßen, der nicht an die Bank ging, sondern einfach nur, um ihn zu sehen. Uni meine Locken an seinem weichen kleinen Babybauch zu reiben und seine durchdringenden Freudenschreie zu hören.
Und so war ich völlig aus dem Häuschen, als ich feststellte, dass ich zum zweiten Mal schwanger war – und schrecklich nervös. Seit Olivers Geburt war meine Arbeit nicht länger mein Lebensinhalt. Doch im gleichen Maße, wie der Stellenwert meines Berufs für mich gesunken war, hatte sich seine Konsequenz im Geldbeutel bemerkbar gemacht. Um es klar und deutlich zu sagen: Wir brauchten das Geld. Und zwar dringend. Das Kindermädchen machte uns arm, und das würde in Zukunft nicht besser werden. jeder würde an unser Geld wollen, angefangen bei Bugaboo bis hin zu Nintendo. Und die Bausparkasse wollte nach wie vor jeden Monat ihreRate. Ich musste diesen Job behalten. Während ich unten in der Lobby auf Denise wartete, der ich bei einem gemütlichen Mittagessen fern des Büros von Nach-wuchs Nummer zwei erzählen wollte, überkam mich plötzlich die unsinnige Vorstellung, sie könne wie ein missbilligender Familienvater auf die Neuigkeit reagieren und Tom mit der Schrotflinte verfolgen, weil er mir das angetan hatte. Ich schob den Gedanken beiseite. Sie würde sich für mich freuen. Hoffentlich.
»Schwanger? Schon wieder?! Aber Sie haben doch schon ein Kind! Und es kommt im Dezember? Da machen wir doch unseren Jahresrückblick!« Seit ich sie eingeweiht hatte, glich Denise einem kläffenden Terrier.
»Ja, mir ist schon klar, dass das Timing nicht optimal ist.« Ich versuchte, beschwichtigend zu klingen. In Wirklichkeit war einer meiner ersten, schändlichen Gedanken beim Anblick der blauen Linie im Testfenster gewesen, dass mir nun der Jahresrückblick erspart blieb, jener entsetzliche Mischmasch aus Was-sich-Promis-zu Weihnachten-wünschen, den Silvestervorsätzen der Promis und ihren Hoffnungen für die Welt im kommenden Jahr. Selbstverständlich schoss irgendjemand von den unteren Chargen Jahr für Jahr einen Bock, wodurch Antworten in der falschen Spalte landeten und sich einer der Stars neue Socken und die CD seines besten Freundes statt Weltfrieden und den Sieg über die Armut wünschte.
»Da muss ich sehen, was unser Chefredakteur dazu sagt«, bellte
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