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Schossgebete

Schossgebete

Titel: Schossgebete Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Roche
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verbrannt. Was soll man dazu sagen? Ich starre die lange Nummer mit der belgischen Vorwahl an. Geht die Nummer wohl direkt in ihr Zimmer, kriegt man nach einer Massenkarambolage ein Einzelzimmer? Wir sind doch alle nur gesetzlich versichert. Normalerweise kriegen wir kein Einzelzimmer. Alle in meiner Familie sagen auch: Das ist doch viel zu langweilig, alleine auf dem Zimmer. Oder geht die Stationsschwester ran? Oder die Zimmernachbarin? Welche Teile sind noch verbrannt am Körper? Rücken gebrochen? An welcher Stelle? Ist sie geschient? Hals? Becken? Tunken die Mama ganz in Gips, um den Rücken einmal zu umschließen? Läuft die Vagina dann auch voll mit flüssigem Gips? Ich ruf da doch nicht an. Ich kann das nicht. Sie lebt. Das ist wunderbar. Aber ich muss doch nicht da anrufen und mir anhören, was alles an ihr verbrannt ist, schwer.
    Ich erkläre meinen Verwandten, dass ich jetzt ihre Krankenhausnummer habe. Aber auch, dass ich da nicht anrufen werde. Ich will nicht. Ich will nicht, dass uns das passiert. Gerade dachte ich noch, das Beste, was passieren kann, ist, wenn meine Mutter überlebt hat, jetzt bin ich schon wieder nur am Meckern. Ich wollte doch, dass sie unverletzt überlebt. Daran hatte ich bis jetzt noch nicht gedacht, dass man auch verletzt sein könnte, wenn man so was überlebt. Ziemlich wahrscheinlich sogar. Und wie hässlich diese Verletzungen sich anhören! Schwer verbrannt und Rücken gebrochen. Das Telefon. Mein Vater.
    »Schlechte Nachrichten, Elizabeth.«
    Ich kann ihn kaum verstehen. Es rauscht ganz laut im Hintergrund. Wie auf einer Rennstrecke.
    »Leider schlechte Nachrichten. In den umliegenden Krankenhäusern sind die Kinder nicht aufgetaucht. Sie haben jetzt alle Personalien aller Überlebenden. Da sind deine Brüder nicht dabei.«
    Deine Brüder? Dein Sohn auch, Papa. Nicht nur ich. Du auch.
    »Sie haben die Unfallstelle geräumt. Die Autobahn ist wieder befahrbar. Ich bin mit Lukas’ Vater hier. Der ganze Boden ist verbrannt.«
    Was? An der Unfallstelle? Sind die bescheuert? Die sollen da weggehen. Wie kann man da nur hingehen? Was? Die haben an der Autobahn gehalten und laufen da rum? Ach so, das ist das laute Geräusch. Die vorbeifahrenden Autos. Klingt wie eine Rennstrecke. Ist es ja auch. Eine Autobahn. Die sollen bloß aufpassen, dass ihnen nichts passiert.
    »Passt auf, ja? Pass auf dich auf, Papa.«
    »Ja, wir passen auf. Mach dir keine Sorgen, Kind. Wir wollten nur die Stelle sehen. Wir sind zusammen hierhin gefahren.«
    Ich weiß genau, dass beide Männer immer zu schnell fahren in ihren schnellen Autos. Ich will das nicht mehr. Ich muss ihnen das verbieten. In unserer Familie wird ab jetzt nicht mehr schnell gefahren.
    Ja, also, sie sind nicht unter den Überlebenden.
    »Dann sind die Leichen wo?«
    Ich kann nicht glauben, was ich da grad frage. Der lässt sich aber auch alles aus der Nase ziehen.
    »Es gibt auch keine Leichen, das ist ja das Komische. Das Auto ist so explodiert und bis zur Unkenntlichkeit verbrannt, dass wir der Polizei beweisen mussten, dass da überhaupt die Kinder auf der Rückbank gesessen haben. Kein Knochen, kein Zahn, nichts gefunden. Die haben uns das erst nicht geglaubt. Die haben drauf bestanden, dass nur zwei Leute im Auto saßen und die überlebt haben. Deine Mutter und Rhea.«
    Da ist er wieder, mein Vater, mein wissenschaftlicher, gefühlloser Vater. Knochen, Zähne. Toll! Da kann man sich doch was drunter vorstellen. Endlich spricht er mal Klartext.
    »Also, sind die tot?«
    »Ja, die sind tot, es gibt aber keine Leichen.«
    Das ist ja sensationell, ich möchte schnell das Telefonat mit meinem Vater beenden, damit ich das meinen Verwandten hier erzählen kann. Ich nenne jetzt einfach mal meinen Freund meinen Verwandten. Weil wir ja fast verheiratet gewesen wären. Das zählt schon als verheiratet. Wenn man Ja gesagt hätte. Hätte, hätte, Fahrradkette. Auch wenn man mittendrin steckt, in der Katastrophe, hat man trotzdem einen Sinn für die eigene Sensationslust und die der anderen.
    Wir legen auf. Im Detail erzähle ich alles weiter, was mein Vater mir gerade gesagt hat. Da geht das schon los, was mich auch ein Leben lang danach begleiten soll: Ich rede über den Unfall, all die blutrünstigen Details, kann mir aber selber kaum glauben, dass das wahr ist, was ich da erzähle. Es erzählt aus mir raus. Ich werde das Gefühl nicht los, dass ich alle anlüge mit dieser Geschichte. Wie ich als kleines Kind mit Komplexen früher meinen Vater

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