Schossgebete
reicher gelogen habe, als er war, damit ich mehr wert war in den Augen der anderen Kinder. Ich bin eine Hochstaplerin. Eine Wichtigtuerin. Will mich nur mit einer erfundenen Geschichte in den Mittelpunkt oder Vordergrund oder was auch immer drängen.
Meine Verwandten lassen mich ein paar Stunden in dem Glauben, dass ich nicht meine Mutter anrufen werde. Dann erklären sie mir, dass das keine Option ist. Sie zwingen mich, da anzurufen. Sie sagen, ich muss da durch. Ich muss mit ihr sprechen, über ihre Verbrennungen und ihren gebrochenen Rücken, sie wartet vielleicht schon die ganze Zeit auf einen Anruf von mir. Man kann sich da nicht drücken, erklären sie. Wo soll das hinführen? Wir werden sie doch bestimmt morgen besuchen wollen. Was? Morgen besuchen? O Gott, ja, das macht man wohl so. Wir sind aber in England, sie in Belgien. Wir müssen sie doch nicht etwa besuchen gehen? Da habe ich noch gar nicht drüber nachgedacht. Das Denken klappt sowieso seit der Unfallnachricht nicht gut. Mein Hirn ist wie krank.Wie Alzheimer. Schockalzheimer.
Um diese Gedanken abzuschütteln, hilft mir nur eine bestimmte Einschlaftechnik. Ich muss sie wegatmen, um wieder zu entspannen, um überhaupt einschlafen zu können. Bevor ich mit der Übung anfange, stecke ich mir das Wunderbarste der Welt in die Ohren: Oropax. Ist lateinisch für »Frieden der Ohren«. Glaube ich jedenfalls. Ich war sehr schlecht in Latein! Georg hat sich zu mir gelegt inzwischen. Er schnarcht, er ist eben voll mit Testosteron, daran liegt das, ich bin fest davon überzeugt. Und alt. Mit den Oropax haue ich mich vollkommen aus der hiesigen Welt raus. Ich dröhne mich vollkommen zu, mit dem Rauschen meines eigenen Bluts im Ohr, ich sperre mich in mir selber ein. Mein Einschlaftrick geht so: Ich verkrampfe meine Füße, versuche jeden Muskel darin anzuspannen, atme erst aus, dann ein, das dreimal und ganz tief. Danach lasse ich sie plötzlich los, alle Fußmuskeln. Danach verfahre ich so mit den Beinmuskeln, Pomuskeln, Rücken, Bauch, Hände, Arme. Eigentlich müsste es noch weitergehen bis Gesicht und Zunge, aber das schaffe ich nie, da ich bei den Armen spätestens eingeschlafen bin. Ich lege noch schnell die Hände über der Brust gefaltet zusammen. Wie zum Gebet. Ich übe in dieser Haltung das Totsein. Ich freue mich schon auf meinen eigenen Tod. Endlich Ruhe. Im Kopf. Im Körper. Obwohl ich eigentlich nichts tue, was anstrengend ist. Nur sein. Das reicht schon, um mich fertigzumachen. Sobald die Hände für meinen Leichenschlaf über der Brust gefaltet sind, bin ich weg.
Mittwoch
Der Wecker klingelt um 6.20 Uhr, wie jeden Morgen, seit ich ein Kind habe. Schrecklich. Aber heute kommen noch die Würmer dazu. Die Erdanziehung ist besonders stark und zieht den Körper zurück ins Bett, ich muss mich mit aller Kraft dagegen wehren. Alles, was ich an Über-Ich zur Verfügung habe, kratze ich zusammen und setze es ein, ich war zu spät im Bett und noch viel später eingeschlafen gestern. Genau in der Leichenstellung, in der ich eingeschlafen bin, wache ich jeden Morgen auf. Ich bewege mich wohl im Schlaf kein bisschen. Das nennt man dann Leichenschlaf. Georg könnte den Unterschied nicht feststellen, wenn er mich so daliegen sieht, ob ich lebe oder tot bin. Manchmal hält er seinen Zeigefinger unter meine Nase, dann spürt er den warmen Atem. Hat er mir mal erzählt. Der übt auch schon, wie das ist, wenn ich sterbe.
Das Aufstehen macht mir jedes Mal zu schaffen. Habe selber als Kind schon immer Theorien entwickelt, dass irgendwas nicht stimmt, wenn immer alles, Schule, Arbeit, Krankenhaus, so früh anfängt in diesem Land. Das macht doch das ganze Leben kaputt. In der Schule haben wir gelernt, dass jeder Mensch seinen eigenen Biorhythmus hat, das wird aber nicht in die Wirklichkeit übertragen. Man lernt hier in der Schule, dass das System falsch ist. Und trotzdem läuft es genauso weiter. Jetzt habe ich ein Kind und muss schon wieder so früh aufstehen. Mir war das bei der Schwangerschaft nicht ganz klar, wie lang das alles so geht mit der Verantwortung, meine Güte, die achtzehn Jahre ziehen sich jetzt schon extrem.
Der Morgen, eigentlich der ganze Tag, läuft immer gleich ab. Ich stehe alleine auf, mache für das Kind Frühstück, entweder Biomüsli mit einem ganzen Bioapfel drin mit Biomilch drüber oder von meinem Mann selbst gebackenes Vollkornbrot mit Hüttenkäse drauf, damit wir keine Zusatzstoffe zu uns nehmen müssen. Mir selber mache ich einen
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