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Schossgebete

Schossgebete

Titel: Schossgebete Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Roche
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den Küchentisch herum und schweigen.Was sollen sie auch sagen? Das überrollt einen einfach.
    Mein Telefon klingelt. Es ist mein Vater.
    »Ja?«
    »Ich habe eine gute Nachricht: Rhea lebt.«
    »Nichts von Mutter gehört?«
    »Nein. Ich meld mich, wenn was ist. Sie sagen, das ist ihre Informationspolitik: Immer erst sagen, alle sind tot, danach gibt’s dann, wenn überhaupt, nur noch gute Nachrichten. Sie sagen, dort herrscht großes Chaos, Riesenmassenkarambolage, die Opfer sind auf viele verschiedene Krankenhäuser verteilt, manche sind bewusstlos, ohne Ausweis, Holländer, Belgier, Engländer, man muss erst rausfinden, wer wer ist, bei den Lebenden und bei den Toten. Muss erreichbar bleiben.«
    Er legt auf. Gut, dass er was zu tun hat. Er ist ein Mann. Es ist immerhin sein einziger Sohn, von dem jede Nachricht fehlt. Mein ältester Bruder. Trotzdem jünger als ich. Mein Vater in der Schaltzentrale des Unfalls. Wie: Informationspolitik? Erst alle anlügen? Sagen: Alle sind tot, obwohl das gar nicht so ist? Mit dem Schlimmsten, was es gibt? Alle sind tot. Einfach nur behauptet? Was? Was? Hoffnung. Erst zerstören sie alle Hoffnung. Dann gibt es wieder welche. Sie sagen erst: alle tot, und dann melden sie Schritt für Schritt die Überlebenden. Dann gibt es am Ende etwas Freude. Und nicht nur totale Verzweiflung. Guter Trick. Diese belgischen Polizisten sind echte Psychofüchse!
    Rhea, Rhea, Rhea, na und? Die Freundin meines Bruders. Ich habe zu ihr keine Beziehung. Also, kaum. Toll für ihre Familie. Toll, bestimmt. Aber für uns doch nicht. Blut ist dicker als Alkohol. Alkohol macht Blut aber dünner. Heißt das, es könnte sein, dass Mutter auch noch lebt? Seit dem ersten Anruf meines Vaters sind drei Stunden vergangen. Es kann sein, dass er gleich anruft und sagt: Sie haben deine Mutter gefunden. Lebend. Oder auch tot. Er bestätigt oder dementiert die Todesnachricht. Alles wieder offen. Quälendes Warten. Abhängig von Nachrichten. Ruf an. Ruf an. Papa. Ruf an.
    Ich unterhalte mich betrunken mit den Verwandten und meinem Freund, starre aber die ganze Zeit auf mein Telefon. Kontrolliere immer die Empfangsbalken. Dass nicht noch mehr schiefgeht. Es wird langsam Abend. Ich habe keinen Appetit, esse aber trotzdem was. Meine Tante macht uns was warm.
    Am späten Abend fällt mir auf, dass meine beiden Cousins fehlen. Ich frage nach, wo sie sind. Und bin froh, dass mir überhaupt noch was Normales einfällt, über das man sich unterhalten kann. Daran merkt man, wie schlecht mein Gehirn unter Schock funktioniert, ich brauche Stunden, um festzustellen, dass zwei Verwandte im Haushalt fehlen. Meine Tante und mein Onkel haben die Kinder weggeschickt, als sie den Anruf meines Freundes erhalten haben, sie haben den Kindern nicht erzählt, warum sie weg sollen, aber sie haben sie spontan bei Freunden untergebracht, damit sie sich in ihren jungen Jahren nicht mit so etwas Schrecklichem auseinandersetzen müssen. Sie wollten den Kindern am nächsten Tag alles erzählen.
    Das Telefon klingelt. Ich geh nach einem Mal Klingeln dran. Hab schon das Wort Papa gelesen, bevor es überhaupt ein Geräusch gegeben hat.
    »Ich habe eine gute Nachricht. Mutter lebt.«
    »Danke, Papa, danke. Wo ist sie?« An meinem Gesichtsausdruck und dem Wörtchen »sie« können sich mein Freund und die Verwandten schon denken, dass meine Mutter überlebt hat. Ja. Das sagt man dann wohl. Sie hat überlebt. Der mir wichtigste Mensch auf der Erde hat die Massenkarambolage überlebt.
    »Hast du was zu schreiben? Ich gebe dir ihre Nummer im Krankenhaus in Antwerpen. Sie ist schwer verbrannt, aber bei Bewusstsein.«
    Sie lebt, aber ist schwer verbrannt? Mit was man sich so rumschlagen muss im Leben.
    »Wie? Schwer verbrannt? Was heißt das?«
    Bitte nicht Mamas Gesicht!
    »Ich habe nicht mit ihr direkt gesprochen. Der Arzt sagte, sie sei an beiden Füßen bis auf die Knochen verbrannt. Und ihr Rücken sei gebrochen. Aber sie spricht, verstehst du, sie ist bei Bewusstsein, Elizabeth, ruf sie an.«
    »Ja, mach ich. Tschüss, bis später. Danke noch mal.«
    Mach ich nicht. Ich ruf die doch nicht an! Das kann ich nicht. Was soll ich denn sagen? Da fing das an, dass ich mich vor meiner eigenen Mutter gruseln musste. Ich freue mich unglaublich, dass sie noch lebt, aber was soll man dann sprechen? Da fing die Sprachlosigkeit an in unserer Familie. Aus Feigheit. Meine Mutter hat eine Massenkarambolage überlebt, ihr Rücken ist gebrochen, und ihre Füße sind

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