Schossgebete
Milchkaffee, was ich mittlerweile für meinen Mann sehr gut gelernt habe, natürlich profitier ich auch selber davon, und gehe dann wieder runter, um das Kind zu wecken. Sie will nie aufstehen, niemals, wie ich früher, aber ich muss ihr vorspielen, dass es sehr wichtig ist, morgens aufzustehen und in die Schule zu gehen, auch wenn ich selber gar nicht daran glaube. Sie soll doch für das weitere Leben gewappnet sein und keine Pennerin werden oder Messie oder drogensüchtig.
Ich rede sie so lange mit Unsinn voll, bis sie lachend aufsteht. Ich rüttele sie mit beiden Händen richtig durch und erzähle ihr im Sommer, dass es geschneit hat, oder regelmäßig, dass sie Geburtstag hat, und gratuliere ihr dazu im Halbschlaf, oder dass ein großes, liebes Tier im Wohnzimmer auf sie wartet, damit sie diese erste Schrecksekunde hat und dann irgendwann lachend sagt: »Oh, Mama, hör auf, du bist peinlich.«
Der meistgesagte Satz zwischen Tochter und Mutter, seit sie sprechen kann.
So kriege ich sie zum Aufstehen. Ich muss Liza dann jeden Morgen wie ein Tierchen aus dem Winterschlaf nach oben locken, sie schlägt bei jedem Schritt die nackten Füße feste platschend auf, um mir zu signalisieren, wie schlapp sie noch ist. Jeden Morgen spüre ich den Impuls in mir, einfach zu sagen: »Weißt du was, Kindelein, leg dich einfach wieder hin, ist doch egal, die Schule heute, ich leg mich dann auch wieder hin. Ist nämlich alles Quatsch, du wirst auch so was, ohne Schule, wahrscheinlich sogar glücklicher.«
Aber ich tue es nicht. Ich würde so gerne. Ist doch alles sinnlos. Ich weiß das. Aber ich handele gegensätzlich. Ich muss eine gute Mutter sein. Besser als meine. Viel besser am besten. Das ist aber auch nicht schwer.
Sie setzt sich an den Esstisch und frühstückt und trinkt für ihre perfekte Gesundheit ein großes Glas lauwarmes Wasser zu dem Müsli.
Ich lasse sie erst mal in Ruhe frühstücken, um sie dann mit der Wurmproblematik zu konfrontieren. Ich versuche wie immer, so wenig wie möglich von meiner eigenen Panik auf das Kind zu übertragen.
»Kann ich bitte mal kurz dein Poloch sehen?«
»Warum?«
»Du hast doch gestern gesagt, es juckt. Also, ich habe Würmer. Und ich will mal gucken, ob du auch welche hast.«
»Na gut.«
Wir gehen zusammen ins Gästeklo, irgendwie kommt es mir komisch vor, solche Untersuchungen am Esstisch durchzuführen.
Ich lasse es mir nicht anmerken, aber ich bin entsetzt: Die kommen mir ja alle entgegengesprungen.
Also doch. Genau, wie ich vermutet hatte. Sie und ich sind auf jeden Fall befallen. Sie geht heute nicht zur Schule. Wir fahren sofort am Morgen noch zum Kinderarzt. Es ist mir zwar ziemlich peinlich, aber ich hoffe, dass er mir zusammen mit ihr Medikamente gibt dagegen, dass ich nicht noch zusätzlich zu einem Erwachsenenarzt muss. Mein Mann, der grad hochkommt, als wir die Wohnung verlassen, trägt mir auf, auch ihm vorbeugend Wurmmittel verschreiben zu lassen. Ist klar. Vorbeugend.
»Heute musst du nicht in die Schule, wir gehen zum Kinderarzt.«
»Hä? Warum?«
»Weil wir alle Würmer haben, du und ich auf jeden Fall, und hoffentlich kriegen wir auch Medizin für Papa und Georg.«
»Oh.«
»Ja, ist nichts Schlimmes, wenn man Würmer hat, hat jeder mal. Nach dem Kinderarzt gehst du dann vielleicht zu Papa, wenn der heute Morgen nicht arbeiten muss.«
»Okay.«
Braves Kind, hat noch nie aufgemuckt, was das angeht. Entweder es gefällt ihr gleich gut bei beiden Elternteilen, oder sie kommt einfach gar nicht auf die Idee, den einen gegen den anderen auszuspielen, weil wir versuchen, alles von dem Kind fernzuhalten. Kein Streit um das Kind, kein Druck auf das Kind. Wir beiden getrennten Eltern machen niemals Stimmung gegeneinander, auf jeden Fall nicht vor unserem Kind. Obwohl es bestimmt auf beiden Seiten genügend Gründe gäbe. Wieder: viel besser, als meine Eltern es gemacht haben.
In der Therapie habe ich gelernt, dass es das Wichtigste ist, dass die Eltern dem Kind unmissverständlich klarmachen, dass es nichts für die Trennung kann. Ich habe damals als Scheidungskind meinen Vater so sehr vermisst und habe mir insgeheim eingeredet, dass ich irgendwie schuld sein muss. Meine Eltern haben keine Therapieerfahrung und meinten, nicht mal ein Buch über Erziehung oder Scheidungskinder lesen zu müssen. Sie haben einfach damals in unserem Kopf rumgetrampelt, egoistisch, wie sie sind, sie haben nicht versucht, unsere kleinen Seelen zu schützen. (Auch wenn es
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