Schossgebete
entweder aussieht, als hätte man wie ein Alkoholiker tagsüber geschlafen oder als wäre man in Therapie. Und obwohl ich, was das angeht, versuche, sehr locker zu sein, will ich nicht, dass das jeder sieht. Ich wuschle mir die Haare zurecht, schnappe mir meine Tasche, gucke Frau Drescher fest in die Augen: »Danke, und bis nächste Stunde. Ich erzähle Ihnen dann alles.« Lasse schnell ihre Hand los, weil unsere Beziehung zum Anfassen nicht gemacht ist. Ich rede zwar mit ihr über alles, aber ich sehe sie dabei nie. Dann wundere ich mich, wenn ich sie sehe, weil ich sie mir in der Stunde leicht anders vorgestellt habe. Und dass die Hände sich berühren, geht eigentlich überhaupt gar nicht, na ja, gehört wohl dazu in Deutschland. Und ansprechen würde ich das bei ihr auch nicht, obwohl wir über alles reden, wo soll das denn hinführen? Nachher denkt die, ich bin verrückt!
Ab in den scheiß Aufzug und nach Haus zu Georg. Ich freue mich schon, dass ich ihm sagen kann, dass wir doch in den Puff können. Jetzt muss ich mich nur noch die elf Etagen im Aufzug nach unten kämpfen, ich halte einfach die Luft an, wie immer bei Angst, und schon bin ich im Freien und darf nach Hause fahren.
Auf der Rückfahrt habe ich euphorische Gefühle. Ich benutze meine Therapeutin und die Therapie als Müllhalde. Alles steht im Zeichen für das Immer-mit-meinem-Mann-zusammenbleiben-Können.
Ich höre im Auto immer nur Jan Delay. Der ist nach Elvis der Beste, den es gibt auf der Welt. Nicht nur musikalisch, sondern auch politisch. Das ist mir sehr wichtig. Er kämpft auch gegen die Druck -Zeitung. Ist Mitglied bei Attac. Ich höre ihn und nicht Elvis im Auto, weil ich Elvis nicht mehr aushalte, seit ich meinen Vater verlassen habe. Er hat mir damals, als ich Kind war, Elvis beigebracht, und der ist eigentlich noch vor Jan Delay der Beste der Welt, auch wenn er eine Nulpe war, politisch. Und es reißt mir heute das Herz raus, wenn ich ihn höre, weil es mich an meine Liebe zu meinem Vater erinnert. Deswegen muss Jan Delay herhalten.
Ich lasse alle Fenster des Autos elektrisch runter, damit jeder teilhaben kann an der sexiesten politisch korrekten Musik der Welt! Ich klopfe mir innerlich auf die Schulter, weil ich wieder mal was Gutes geleistet habe, für meine geistige Gesundheit, für die Hygiene in der Familie, die psychische Hygiene. Ehehygiene. Und wie immer, wenn ich Auto fahre, sitzt der Unfall auf meiner Schulter und guckt mir und meinem Leben zu.
Die Beerdigung muss organisiert werden. Was droht, sehr lustig zu werden. Mindestens eine geistig verwirrte Verbrannte, drei trauernde Väter, sieben trauernde Opas und genauso viele Omas, Verwandte und Leute, die man noch nie leiden konnte, wollen alle am Grab einmal über uns drüberrutschen. Warum macht man das überhaupt mit? Ich denke, unserer Familie ist egal, was andere denken, und ich denke, wir glauben an den ganzen Scheiß nicht? Ich bin da schon immer sehr stolz drauf gewesen, aus einer komplett atheistischen Familie zu kommen. Weder väterlicher- noch mütterlicherseits ist auch nur eine Sau getauft. Das finde ich wunderbar. Wir geben den Druck des Unglaubens genauso weiter, wie es die Gläubigen tun, von Generation zu Generation, schön emotional erpressen. Man darf doch nicht alles kampflos den missionierenden Christen überlassen, weil man zu tolerant ist, nein. Bodycount, für jeden Umgedrehten gibt es ein Sternchen. Als Belohnung. Dazu wurde ich ausgebildet, Männer aus ihren katholischen Familien rauszulösen und umzudrehen. Klappt sehr gut, meistens mit Liebe und sexueller Hörigkeit.
Alle Verwandten versammeln sich im Krankenzimmer meiner Mutter. Die Väter sind da, und mein Vater hat seine neue Frau mitgebracht. Ich sage neue Frau, ist sie in meinem Gefühl auch. Sie gehört nicht dazu. Meiner Meinung nach hat sie sich disqualifiziert. Sie hat meinen Vater geheiratet, kurz nachdem meine Mutter ihn verlassen hat. Sie hat sich ganz klassisch, wie Stiefmütter das so machen, zwischen uns und unseren Vater gestellt. Auch ganz klassisch, mit welchen Methoden sie das gemacht hat.
Ich war fünf, mein jetzt toter Bruder vier, sie hielt uns grundsätzlich immer für böse. Stellte sich ständig auf eine Stufe mit uns in direkter Konkurrenz um die Liebe meines Vaters. Sie wollte nicht einsehen, dass er uns bedingungslos liebt. Sie wollte immer beweisen, dass wir das nicht wert waren. Schwer genug für alle Beteiligten. Außerdem fand sie immer, dass wir zu viel essen.
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