Schottische Disteln
und begann, sie auszuziehen und zu waschen. Dann klingelte sie nach der Schwester, damit das Bett frisch gemacht wurde. Als alles bereit war, rief sie im Frisiersalon an.
Die Friseurin, eine kompetente Frau von knapp vierzig Jahren, kannte die Probleme ihrer Kundinnen im Krankenhaus. Ein totaler Haarverlust war keine Seltenheit bei der häufigen Anwendung von Chemotherapie auch in dieser Klinik, und sie war auf den Anblick von Andrea vorbereitet, auch auf die Verzweiflung, die ihr aus übergroßen Augen entgegensah.
Sie begrüßte die beiden Frauen und stellte den kleinen Koffer ab, den sie mitgebracht hatte.
»Ich bin Kate Felloway. Sie müssen keine Angst haben, Miss Steinberg, wir werden Ihrem wunderschönen Gesicht einen würdigen Rahmen geben.«
Andrea nickte skeptisch. »Ich wage nicht, daran zu glauben.«
»Sechs anderen Frauen, die zurzeit hier in der Klinik sind, geht es genauso wie Ihnen. Aber Sie dürfen sicher sein, dass keine Ihre Ausstrahlung hat, und das ist der Pluspunkt, den nur Sie besitzen.«
Kate Felloway wusste genau, dass sie erst einmal das Selbstbewusstsein der Patientin aufbauen musste, und sie machte das äußerst geschickt. Nicht umsonst hatte sie diese delikate Stellung in der besten Klinik Schottlands.
Andrea, durchaus empfänglich für etwas Aufmunterung, nickte. »Wissen Sie, mit meinen Haaren habe ich wirklich kein Glück. Sie sind glatt und weich und viel zu fein, um etwas damit anfangen zu können. Aber jetzt, wo sie fehlen, bin ich total verzweifelt.«
»Das brauchen Sie nicht. Ich schlage vor, wir entfernen auch die restlichen Strähnen, dann kann das Haar gesund und kräftig und gleichmäßig nachwachsen. Vielleicht ist es später schöner als je zuvor.«
Andrea sah die beiden Frauen an. »Ich hoffe, Sie haben Recht, aber was machen wir jetzt?«
»Ich habe auf dem Flur mit dem Stationsarzt gesprochen, er möchte, dass die Wunde an Ihrem Kopf Luft hat und dadurch besser heilen kann. Ich rate also von einer Perücke ab. Sie würde den Kopf zu fest umschließen und schlecht für die Heilung sein. Wir werden aus feinen seidenen Tüchern, farblich passend zu Ihrer Wäsche, hauchdünne Turbane falten, die weder die Wunde noch die nachwachsenden Haare behindern. Hier«, sie suchte in ihrem Koffer, »ich habe Ihnen ein paar Fotos mitgebracht, damit Sie wissen, was ich meine.«
Sie zeigte Andrea verschiedene Bilder.
»Sie sind lieb«, lächelte Andrea, »Sie glauben, mir Mut machen zu müssen – aber wahrscheinlich haben Sie Recht, wahrscheinlich brauche ich einen solchen Anstoß, danke auf jeden Fall.«
Dann zog Kate einen Stapel zart getönter Seidentücher aus dem Koffer und bat Mary, sie mit den Farben der Nachthemden und Pyjamas zu vergleichen. An Andrea gewandt sagte sie:
»Und Sie schließen jetzt die Augen, ich nehme die restlichen Haare ab und rasiere die Kopfhaut, damit das gesamte Haar gleichmäßig nachwachsen kann. Und keine Angst, Miss Steinberg, in vierzehn Tagen sehen Sie schon den ersten Erfolg.«
»Versprochen?«
»Versprochen!«
Gehorsam schloss Andrea die Augen, und während Kate mit großer Vorsicht ihren Kopf behandelte und Mary eine ihrer Hände hielt, träumte sie ein wenig vor sich hin. Zaghaft, um keine Enttäuschung zu provozieren, dachte sie an die Zukunft, die an dem Tag beginnen würde, an dem sie die Klinik verließ. Wohin sollte sie dann gehen? Sie träumte nicht mehr von dem Supermann oder von der Karriere, nicht von Ruhm und Reichtum, das waren ausgeträumte Träume, aus und vorbei. Ganz bescheiden träumte sie vom Sommerhimmel und von grünen Wiesen, von blühender Heide – o ja –, von den Highlands, vom Hochmoor, von schottischen Disteln. Sie träumte von dem Spaziergang hinauf in die Einsamkeit und sah dieses einsame Land wieder vor sich: Unten im Tal, wo sich die Heide und das Grün der Weiden trafen, grasten die Schafe, Steinmauern begrenzten zickzackartig die Flächen, hin und wieder sah man Schafställe wie graue Tupfer über den Hügeln verstreut, und ein paar windzerzauste Bäume, deren vom Meerwind gequälte Äste sich nach Süden bogen, gab es auch. Andrea dachte an den Mann, der mit ihr dort hinaufgegangen war, daran, wie sie die Landschaft genossen hatten, und sie dachte an die Ruhe, die dieser Mann ausstrahlte, dieser Schäfer, der sich nun als gestresster, problembeladener Fabrikbesitzer entpuppt hatte.
Aber daran wollte sie jetzt nicht denken. Sie fühlte Kates Hände, die behutsam ihren Kopf behandelten, und tauchte
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