Schottische Disteln
an diese Frau von sich ab. Er hatte weiß Gott jetzt andere Probleme. Dabei hätte er sich am liebsten auf den Weg in das Queen-Victoria-Hospital gemacht und neben Andrea gesetzt. Ihre Hand in seiner, das wäre die Geborgenheit gewesen, die er jetzt brauchte. Aber daran war nicht zu denken. Ryan rief im Vorzimmer an und bat, seine Anwälte zu benachrichtigen. Er wollte sie in einer Stunde in seinem Büro sehen.
XVII
Andrea weinte fast die ganze Nacht. Sie hatte Mary abends nach nebenan ins Bett geschickt und gesagt, alles sei in Ordnung. Aber kaum allein, war sie zusammengebrochen. Es war einfach zu viel für sie. Die Schmerzen im Rücken und die Tatsache, dass sie sich nicht erklären konnte, wie es zu diesen furchtbaren Wunden gekommen war, dann der Augenblick, als der Kopfverband entfernt wurde und sie erkennen musste, dass nur auf einer Seite des Kopfes noch einige Haarsträhnen vorhanden waren.
Niemand hatte ihr einen Spiegel gegeben, aber schließlich hatte sie ja Hände zum Fühlen, und beim Abendessen hatte sie den Messerrücken als Spiegel benutzt und fassungslos die weiße, kahle Kugel ihres Kopfes betrachtet. Sie war für ihr ganzes Leben gezeichnet, und sie war kaum dreißig Jahre alt: die roten, dick vernarbten Verletzungen auf ihrem Rücken, von denen der Professor gesagt hatte, dass man sie vielleicht später durch Hautverpflanzungen abmildern könne, und dann das noch immer geschwollene, gequetschte Bein, das sie nicht belasten konnte. Vielleicht konnte sie nie wieder richtig laufen, vielleicht blieb ein Dauerschaden zurück, und sie musste ein Leben lang hinken?
Dahin waren all die Träume, die sie einmal gehabt hatte. Kein Mann würde sie mehr ansehen, und wenn sie an ihre Fotokarriere dachte, überkam sie ein Grauen. Niemals wieder würde sie ohne Angst einen Apparat in die Hand nehmen. Und plötzlich erinnerte sie sich schwach, dass sie ihre Apparate zu etwas anderem benutzt hatte – doch zu was, um Himmels willen?
Sie wechselte vorsichtig ihre Lage und überlegte. Aber wie immer, wenn sie daran dachte und die Augen schloss, sah sie nur so etwas wie schwarze Schleier, die vor ihren Augen hin und her, auf und nieder schwangen, immer näher kamen, aber nicht zu greifen waren.
Dann war sie doch eingeschlafen und wurde wach, als Mary ihr zärtlich über das Gesicht strich. Wie gut, dass sie Mary hatte, kein Mensch konnte ihr diese Frau ersetzen, die sie durch die schlimmsten Augenblicke ihres Lebens hindurchbegleitete. Der man nichts erklären musste, die einfach alles wusste und fühlte; die wie eine Mutter war, eine Mutter, die sie schon seit so vielen Jahren nicht mehr hatte.
»Mary, ich bin so unglücklich«, schluchzte sie und legte ihre Wange in die alte, schon runzelige Hand, die von viel körperlicher Arbeit zeugte und so zärtlich sein konnte. »Was soll ich bloß machen?«
»Alles wird gut, Andrea, glaube mir. Das Haar wächst nach, die Kleidung verdeckt deinen Rücken, und dein Bein erholt sich mit jedem Tag.«
»Würdest du mir bitte die Friseurin bestellen, von der Ryan gestern gesprochen hat?«
»Ja, Andrea. Wir waschen dich jetzt und beziehen das Bett, und dann rufe ich unten an. Der Salon ist neben der Cafeteria im Erdgeschoss. Sie kann in fünf Minuten hier oben sein.«
»Und, Mary, bitte keinen Besuch vorläufig. Auch Ryan soll nicht kommen. Ich muss mich erst an mich selbst gewöhnen, bevor ich anderen Menschen begegne.«
»Natürlich. Aber du musst keine Angst vor Ryan haben. Er weiß doch, wie du aussiehst, und es hat überhaupt keine Bedeutung für ihn.«
»Mary, Ryan ist für mich ein fremder Mann. Er ist sehr hilfsbereit und sehr nett, aber ich kenne ihn doch kaum. Und dann diese Täuschung. Bis gestern wusste ich nicht einmal, wer er wirklich ist. Warum hat er mich belogen?«
»Ryan hat große Probleme mit seinem Leben, er hat viele Enttäuschungen hinter sich und musste sich so oft mit falschen Freunden auseinander setzen, das hinterlässt Narben, Andrea. Ein bisschen Verständnis musst du für ihn haben und ein bisschen Vertrauen in ihn auch. Glaube mir, du wirst nicht enttäuscht werden, dafür kann ich meine Hände ins Feuer legen.«
»Ach Mary, deine Hände, wenn ich die nicht gehabt hätte.« Tränen liefen ihr über das Gesicht. »Aber glaub mir, ich muss erst einmal zu mir selbst finden, bevor ich auf die Suche nach irgendetwas oder irgendjemandem gehen kann.«
»Du hast alle Zeit der Welt, mein Kind, sei ganz ruhig.«
Mary wischte ihr die Tränen ab
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