Schottische Disteln
wieder ein in die Erinnerung an diesen schönen Tag in dieser wunderbaren Landschaft. Sie lächelte in Erinnerung an den zärtlichen Kuss, den Ryan ihr im roten Licht der untergehenden Sonne gegeben hatte.
Wie eine Ermunterung war dieses Lächeln für Kate und Mary. Sie nahmen das Frisiertuch ab, schüttelten die Kissen in ihrem Rücken auf und reichten ihr einen Spiegel.
»Schau mal, Andrea«, sagte Mary aufmunternd, während Kate noch etwas Rouge auf ihren Wangen verteilte und mit einem Pinsel vorsichtig über ihre Lippen strich.
Unsicher sah Andrea die beiden Frauen an, dann nahm sie den Spiegel und blickte hinein, und was sie sah, überraschte sie und war gar nicht schlecht. Ihr Gesicht mit etwas frischer Farbe, die hübsch geformten Lippen, mit denen sie schon immer zufrieden gewesen war und die fein geschwungenen Brauen, die gut zur Geltung kamen – sie konnte eigentlich zufrieden sein, wären da nicht die furchtbaren Gedanken an das, was unter Farbe und Seide so sorgfältig verborgen wurde. Aber sie durfte den beiden Frauen nicht das Gefühl der Zufriedenheit verderben. Sie hatten sich so viel Mühe gegeben. Und so nickte sie, lächelte und erklärte: »Danke, das sieht wirklich gut aus. Ich fühle mich wie neu, Kate, Sie haben Ihr Versprechen gehalten.«
Kate zeigte Mary, wie die Seidentücher gefaltet und befestigt werden mussten, und Andrea versuchte, den Spiegel so zu halten, dass sie einen Teil ihrer Schultern sehen konnte. Aber sie waren sorgfältig bedeckt, wie immer hatte Mary dafür gesorgt, dass nicht das kleinste Stückchen Haut unter der Seide des Nachthemdes hervorschaute. Und dann nahm man ihr den Spiegel auch schon wieder ab. Kate packte ihre Sachen ein, dazu gehörte auch dieser kleine Spiegel, und Andrea wusste, dass man ihr noch lange das Aussehen ihres Rückens verheimlichen würde.
Etwas später an diesem Tag bekam Andrea zum ersten Mal Post. Ein dicker brauner Umschlag mit verstärkter Rückseite lag neben dem Tablett mit dem Teegedeck, und bevor Mary ihn zur Seite legen konnte, hatte Andrea ihn schon bemerkt. Mary, die genau wusste, dass Ryan nicht wollte, dass Andrea mit unkontrollierten Dingen konfrontiert wurde, versuchte, den Umschlag an sich zu nehmen, aber Andrea winkte energisch ab.
»Es wird Zeit, dass ich mich wieder um meine eigenen Angelegenheiten kümmere, Mary. Es ist lieb von dir, dass du alles von mir fern halten willst, aber ich muss mich wieder an Normalitäten gewöhnen. Es wird Zeit, dass ich der Wirklichkeit ins Auge schaue.«
Sie nahm den Umschlag und besah sich den Absender. »Er kommt vom Fotostudio, Mary, ich nehme an, es sind ein paar von meinen Aufnahmen.«
Sie öffnete den Umschlag und nahm zuerst den Brief heraus, der obenauf lag. Er war von Inken.
»Liebe Andrea, wir wünschen dir alles, alles Gute. Wir wissen, dass du sehr krank bist, und hoffen, dass es dir jeden Tag ein bisschen besser geht und dass du bald wieder hier bei uns bist. Heute schicke ich dir diese wunderschönen Fotografien, damit du sehen kannst, wie gut du mit deinen Apparaten gearbeitet hast. Holger hat sich ebenfalls große Mühe gegeben und bewundert dich und lässt dich grüßen. Herzlichst, Inken und Jens.«
Leicht bekümmert in der Erinnerung an ihre unbeschwerte und dann so unerwartet zu Ende gegangene Fahrt und an die vielen Motive, die ihr begegnet waren, begann Andrea, die einzelnen Bilder zu betrachten. Schöne Fotos, dachte sie. Inken hatte Recht, ihr Auftraggeber konnte zufrieden sein.
»Schau mal, Mary«, rief sie, »wo ich überall gewesen bin. Das hier ist der Tweed, der längste Fluss Schottlands.«
»Ich weiß, Andrea, hier hat Ryan seine Herden stehen und die Spinnereien.«
Andrea sah sie erstaunt an: »Ich denke, er hat eine Werft in Aberdeen.«
»Ja, und Schafe dort unten. Du hast ihn doch als Schäfer kennen gelernt.«
»Ja schon, er hat auch etwas von größeren Herden gesagt.«
Andrea nahm andere Fotos in die Hand. Sie lachte. »Das ist der Whisky-Trail, na, da konnte ich natürlich nicht widerstehen. Die Probeschlückchen an Ort und Stelle hatten es in sich, das sage ich dir. Das hier sind die Ruinen der Abtei von Dryburgh, eine riesige Anlage, und das hier sind meine ersten Fotos von den Highlands. Die Highlands waren lange der unzugänglichste Teil Schottlands, und noch um 1700 wusste man in London über dieses Land nicht mehr als über fernste Kolonien in Übersee.«
»Du liebst die Highlands, nicht wahr?«
»Ich finde sie unbeschreiblich schön,
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