Schottische Disteln
hatte keine Familie, die sie unterstützen konnte. Sie war auf sich allein gestellt, aber das war sie schon immer, und das war sie gewöhnt.
Mary beobachtete sie heimlich. Sie sah die Veränderungen, die mit Andrea vor sich gingen, nachdem sie wieder bei Bewusstsein war und sich von dem Schock erholt hatte. Sie sah, dass die junge Frau grübelte, und sie überlegte, wie sie ihr helfen könnte. Sie spürte aber auch, dass Andrea mit ihren Gedanken allein fertig werden musste, und ließ sie in Ruhe. Sie blieb im Hintergrund, bereit, einzuspringen, wenn Hilfe nötig wurde, aber auch bereit, sich langsam völlig zurückzuziehen. Die junge Frau machte in diesen Stunden einen Wandel durch, der ihr ganzes Leben verändern konnte. Dabei wollte sie nicht stören.
Als Ryan am nächsten Tag anrief, um sich nach Andreas Zustand zu erkundigen, beruhigte sie ihn.
»Miss Steinberg ist sehr nachdenklich, Sir, ich glaube, sie erholt sich jetzt und beginnt, an die Zukunft zu denken.«
»Kann ich sie besuchen, oder will sie noch immer keinen Menschen sehen?«
»Sie können kommen, Sir, ich werde ihr sagen, dass Sie unterwegs sind, und sie ein bisschen zurechtmachen.«
»Für mich ist das nicht nötig, Mary.«
»Ich weiß, Sir, aber für Miss Andrea ist es wichtig. Sie ist eine Frau, und Frauen brauchen neben Selbstvertrauen manchmal auch ein bisschen Farbe.«
Ryan kam gegen vier, und Andrea erwartete ihn. Mary hatte ihr einen Turban gebunden, und Andrea verlangte nach einem Spiegel und nach Kosmetika, und als Ryan kam, saß sie in einem Sessel am Fenster und sah ihm gefasst entgegen.
»Andrea, welch eine Überraschung.« Ryan kam schnell auf sie zu und küsste sie auf beide Wangen. »Wie schön, dass du schon am Fenster sitzen kannst.«
Sie nickte und lächelte: »Der Professor sagt, es sei besser, im Sessel zu sitzen als im Bett zu liegen, der Rücken wird auf diese Weise geschont.«
»Ich habe mit ihm gesprochen, er ist sehr zufrieden.«
Ryan zog sich einen Stuhl heran und setzte sich neben sie.
»Darf ich deine Hand nehmen?« Und bevor sie antworten konnte, hatte er nach ihrer Hand gegriffen und hielt sie fest.
»Ich freue mich. Du siehst viel besser aus als gestern.«
»Gestern? Warst du hier?«
»Ich habe von deinem Schock gehört, und ich wollte nicht, dass du allein damit bist.«
»Danke. Es war schrecklich, aber es war auch ein heilsamer Schock.«
Fragend sah Ryan sie an.
»Er hat mich wachgerüttelt. Er hat mich gezwungen, an die Zukunft zu denken und daran, wie es weitergehen soll.«
»Und? Hast du schon eine Antwort gefunden?« Sanft streichelte er ihre Hand.
»Nicht direkt. Aber eines weiß ich, ich werde nie wieder fotografieren.«
»Kann ich dir helfen, eine Lösung zu finden?«
»Ich glaube nicht. Damit muss ich allein fertig werden.«
Sie lächelte und entzog ihm ihre Hand. »Du bist sehr nett, Ryan, aber es gibt Dinge, mit denen muss man allein zurechtkommen.«
»Ich wäre sehr froh, wenn du mich in deine Pläne einbeziehen würdest.«
Er stand auf und trat ans Fenster, er wollte nicht, dass sie sah, wie wichtig ihm diese Bitte war. Dann gab er ihr ein kleines Päckchen. »Vielleicht hilft dir dies bei deiner Entscheidung. Mach es auf, wenn ich weg bin, damit du dann in Ruhe darüber nachdenken kannst.«
Überrascht sah sie ihn an. »Ryan, Geschenke sind verboten. Ich stehe so tief in deiner Schuld, wie soll ich das jemals gutmachen? Du hast mir das Leben gerettet, kein Mensch hätte mir ein größeres Geschenk machen können, ich ...«
Ratlos sah sie ihn an, das Schächtelchen in den Händen, die Augen voller Tränen.
»Nicht doch, Andrea«, er versuchte heiter zu wirken und die aufkommende Trauer abzuwenden, »wenn du mich besser kennen würdest, wüsstest du, dass ich nichts ohne eigenen Vorteil tue.«
»Was soll das denn heißen?« Sie lächelte und betrachtete seinen Rücken, den er ihr immer noch zuwandte. »Dreh dich um und sieh mich an. Was sollte das mit dem Eigennutz heißen?«
»Genau das, was ich gesagt habe. Ich bin eben ein sehr egoistischer Mensch.«
»Ach komm, setz dich wieder her. Du und egoistisch, wer soll das denn glauben?«
»Frag mal meine Arbeiter oder Mary, die draußen hin und her läuft und sich den Kopf zerbricht über das, was ich dir hier vermutlich antue.«
Jetzt musste sie laut lachen.
Ryan bemerkte: »Lieber Schmerzen als Tränen, nicht wahr?«
»Du hast Recht. Aber da wir schon über Mary sprechen, du könntest sie wieder mit nach Hause nehmen. Sie
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