Schottische Disteln
aufzumuntern, herauszureißen aus Tiefen, die sich auch für ihn so oft auftaten.
Wie konnte er Andrea helfen, die sich so wenig helfen lassen wollte, und wie konnte er sich selbst helfen? Seine Sehnsucht nach dieser Frau war übermächtig, aber er wusste genau, dass er sie nicht überrumpeln durfte. Schon die Tatsache, dass er kein einfacher Schäfer war, hatte sie aus der Bahn geworfen, wie würde sie mit einem Geständnis seiner Liebe fertig werden? Sie sagte mit Recht, dass sie ihn kaum kenne, und über ihr Leben in Hamburg wusste er so gut wie gar nichts.
Er musste langsam vorgehen, aber hatte er die Geduld dazu? Er wusste, wie schnell er ungeduldig, unbeherrscht und aufbrausend werden konnte, wenn nicht alles so lief, wie er es sich vorstellte. Zu lange war er allein gewesen, musste auf keinen Menschen Rücksicht nehmen und wollte das auch gar nicht. Konnte er sich überhaupt noch anpassen? Ein Leben zu zweit war der totale Gegensatz zu dem Leben, das er jetzt führte. Er würde Rücksicht nehmen und Vertrauen aufbauen müssen. Er würde zurückstecken und selbstlos werden müssen. Konnte er das?
Fünfzig Jahre war er allein gewesen, auch früher, in seinem strengen Elternhaus, wo er so wenig Liebe und Zuneigung erfahren hatte, fünfzig Jahre, die ihn geprägt hatten, ließen sich nicht einfach abschütteln – aber da war dieser grenzenlose Wunsch nach Geborgenheit, den er unbewusst spürte, die Sehnsucht nach Ruhe, die Sehnsucht nach einem Menschen, der zu ihm gehörte, dem er vertrauen konnte, in dessen Hände er sein Leben legen konnte.
Einen solchen Menschen zu finden, war beinahe unmöglich, aber er hatte ihn gefunden, er war so sicher wie noch nie in seinem Leben, und er würde um diesen Menschen kämpfen, mit allen Mitteln, die ihm zu Gebote standen. Und darin sah er nicht etwa seine Macht und seinen Reichtum, sondern sein Wesen und seinen Charakter, den er ernsthaft würde ändern müssen. Er war zur Liebe fähig, das spürte er, auch wenn er es mit Sicherheit nicht wusste, woher auch? Aber er konnte lernen, er konnte an sich arbeiten, seinen Hochmut abstreifen und der Mann werden, den Andrea am Rande eines Trödelmarktes kennen gelernt hatte. Und plötzlich freute er sich. Er würde es schaffen. Andrea musste nur noch gesund werden.
Professor McAllan empfing ihn sofort und erklärte ihm, was geschehen war. Dann erlaubte er ihm, die Patientin kurz zu sehen.
Mary hatte ein seidenes Tuch über Andreas Kopf gelegt. Sie wusste, dass es ihr Wunsch gewesen wäre, und sie wollte Ryan den Anblick des kahlen Schädels ersparen.
Ryan nickte ihr zu und bat: »Lasst mich ein paar Minuten mit ihr allein.«
Die beiden Frauen gingen in den Nebenraum und schlossen die Tür. Ryan setzte sich neben Andrea, nahm ihre Hand und flüsterte. »Alles wird gut, mein Mädchen. Wir werden mit diesem ganzen Chaos fertig. Wir schaffen das, gemeinsam schaffen wir das. Ich verspreche es. Du hast noch ein paar schlimme Tage vor dir, vielleicht sind es auch Wochen, aber gemeinsam stehen wir das durch.«
Er sah sie an. Ihr Atem ging gleichmäßig und kräftig, sie schlief ganz tief. Das Licht eingeschalteter Überwachungsgeräte ließ ihre Haut schimmern und verlieh dem seidigen Gewebe ihrer Augenlieder einen durchscheinenden Glanz.
Er stand auf, küsste behutsam ihre Stirn und streichelte mit seiner Hand ihren Kopf. Er nahm das Tuch nicht ab, weil er wusste, dass sie es nicht gewollt hätte, und strich mit einer Fingerspitze über ihre Lippen: »Wenn du hier herauskommst, gehe ich mit dir zurück in die Highlands, das verspreche ich dir. Du wirst ganz gesund werden, und wir werden eine wunderbare Zeit da oben haben. Beeile dich, mein Mädchen, bitte.«
XIX
Andrea war klug und kritisch genug, um zu wissen, dass Selbstmitleid ihr nicht weiterhalf. Sobald sie wusste, woher die Wunden auf Rücken und Schultern stammten, erholte sie sich erstaunlich schnell von dem Schock und setzte ihre ganze Kraft ein, um mit diesem Wissen fertig zu werden. Sie würde schreckliche Narben zurückbehalten, aber sie würde damit leben können.
Sie wusste allerdings auch, dass sie nie wieder fotografieren konnte. Sobald sie einen Apparat in die Hand nahm, würde sie die schwarzen Vogelschwärme vor sich sehen. Der Anblick eines Fotoapparates würde sie stets an die schrecklichsten Stunden ihres Lebens erinnern, und das musste sie nicht haben.
Was aber konnte sie stattdessen tun? Sie musste Geld verdienen, sie hatte kaum Ersparnisse, und sie
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