Schottische Engel: Roman (German Edition)
von den Füßen bis zum Kopf der Länge nach durchbohren, um ihn liegend zu befestigen. Dabei ist er zerbrochen.« Er stellte die beiden Teile auf den Boden und klopfte sich die staubigen Jackenärmel ab. »Eigentlich wollten sie ihn dann als Feuerholz verheizen. Aber er passte nicht in ihren Ofen, und bevor sie ihn zerhackten, bekamen sie ein schlechtes Gewissen, weil's halt ein Engel war. Und so ist er hier bei uns gelandet.«
Mary war längst niedergekniet und untersuchte die beiden Engelhälften, die, obwohl ein paar hundert Jahre älter, ganz stark an die schlichten, streng erdgebundenen Figuren des deutschen Bildhauers Ernst Barlach erinnerten. Zärtlich und mit Tränen in den Augen strich sie über das Holz. »Er ist so wunderschön«, flüsterte sie, und Herr Möller, ergriffen von Marys Freude, erklärte: »Ich schenke Ihnen den Engel, gnädige Frau.«
XXIII
Ferdinand Möller ließ es sich nicht nehmen, seine Kunden eigenhändig ins Hotel ›Atlantic‹ zu fahren. Mit Menschenkenntnis und Verkaufserfahrung versehen, hatte er sehr schnell gewusst, dass er es hier mit kompetenten Konsumenten zu tun hatte, die nicht nur Interesse heuchelten, sondern ernsthaft nach geeignetem Mobiliar und passenden Requisiten suchten. Und da es zu seinen Aufgaben gehörte, historische Filme, Theaterstücke und Romane zu kennen, war ihm der Name David McClay durchaus bekannt. So war er im Geheimen überaus zufrieden mit der Tatsache, dass dieser Produzent ausgerechnet in sein Geschäft gekommen war, um nach Requisiten zu suchen. Und dass die junge Dame, die ihn begleitete, über ein großes Fachwissen verfügte, hatte er sofort erkannt. Sie ließ sich nichts aufschwatzen oder anpreisen, sie wusste genau, wonach sie suchte und was nicht in die vorgegebene Zeit oder in die hanseatische Tradition des beginnenden 19. Jahrhunderts passte.
So bestand Ferdinand Möller darauf, David McClay, Mary Ashton, Clark Brown und zwei in Wolldecken gehüllte Engelhälften ins Hotel an der Außenalster zu fahren. Außerdem war er froh, diesen beim Bohren der Länge nach auseinandergeplatzten Engel loszuwerden, denn so einen Engel zu entsorgen, war auch nicht unbedingt seine Leidenschaft. Immerhin gehörten Engel zu einem Mobiliar, das man nicht einfach so entrümpelte wie einen alten Kleiderschrank. Das hatten schon die Matrosen damals erkannt, die ihn eigentlich hatten verfeuern wollen, ihn aber dann doch nicht zu zerhacken gewagt hatten.
Während David den Kunsthändler noch zu einem Drink an die Bar einlud und der Sekretär den Übersetzer aufsuchte, ließ Mary von zwei Pagen die gut anderthalb Meter hohen Engelhälften in ihre Suite bringen, entschuldigte sich für ihren Verzicht auf einen Drink und eilte dem schottischen Engel hinterher.
Endlich allein mit ihrem Fund, nahm sie der Figur die Wolldecken ab und stellte sie nebeneinander, so wie sie einst geschaffen worden waren. Sie hatte sofort erkannt, dass dieser, wenn auch gespaltene Engel echt war. Der seidige Glanz des Holzes, der durch nichts zu erreichen war als durch die einzigartige Führung eines Schnitzmessers, für die Titurenius berühmt war, verleitete sie immer wieder dazu, über die Gestalt zu streichen und die samtige Feinheit zu spüren. Dass er gespalten war, bestürzte sie, hinderte sie aber nicht daran, das Glück über den Fund zu genießen. ›Man kann ihn natürlich leimen‹, dachte sie, ›andererseits ist gerade seine Gespaltenheit ein Beweis für die Strapaze, die er durchgemacht hat. Da wollten ihn ein paar Matrosen von Kopf bis Fuß durchbohren, um ihn dann als Galionsfigur am Bugspriet liegend zu befestigen, aber das ließ sich der aus einem uralten Mast geschnitzte Gabriel nicht gefallen. Er brach entzwei. Recht so, mein Lieber‹, lächelte sie und strich noch einmal über das Holz. ›Ich werde ihn dem Museum schenken, aber unter der Bedingung, ihn geteilt auszustellen. Jeder soll sehen, dass auch ein Engel nicht frei vom Leiden ist.‹
Sie zog sich aus, duschte und streifte den Seidenkaftan über, den ihr Thomas aus Afrika mitgebracht hatte. Heute würde sie ihre Suite nicht mehr verlassen, heute würde sie nur noch den Anblick dieses Engels genießen und später, wenn David noch kommen sollte, vielleicht mit einem Glas Champagner auf dieses wunderbare Geschenk anstoßen.
Lange musste Mary nicht warten. David spürte genau, was in ihr vorging. Er ahnte die ungeheure Freude, die sie erfüllte, und dass sie nach diesem Erlebnis, den so lange gesuchten
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