Schottlands Wächter (German Edition)
sie die Redcaps erlebt hatte, gestand sie sich ungern ein, dass es Monster gab. Trotzig sagte sie: „Kann sein, dass sie in Alba echt sind. Bei uns in Schottland sind sie nur in Geschichten lebendig.”
„Bis mal wieder eins durch eine Schwachstelle fällt”, sagte Kaylee.
„Du meinst, es gibt tatsächlich ab und an Monster in Schottland?”
Kaylee nickte. „Dein Vater kennt sie alle persönlich! Immerhin ist er derjenige, der sie wieder nach Alba zurückschickt, bevor sie Unheil anrichten können.”
Bryanna sah Kaylee überrascht an. „Warum hat er mir das alles nicht erzählt?” Sie konnte und wollte nicht glauben, dass ihr Vater ihr etwas so Wichtiges verschweigen würde.
„Vielleicht dachte er, du würdest ihn auslachen.” Kaylee zuckte mit den Schultern. „Hat er dir mal gesagt, wie alt er ist?”
„Fünfzig.”
„Da hat er gelogen. Er ist fast zweihundertundfünfzig Jahre alt! Er hat die industrielle Revolution in Schottland miterlebt und Joseph Mitchell um 1860 beim Bau der Highland Eisenbahn unterstützt. Er hat ihn danach sogar eingestellt, um in Alba eine Bahn von Edinburgh nach Inverness zu bauen. Während der Bauernaufstände von 1882 bis ‘84 in Schottland hat er Frauen und Kinder nach Alba evakuiert und vieles mehr. Dein Vater hat dir nicht mal einen Bruchteil seines Lebens erzählt.”
Bryanna schüttelte den Kopf. „Kein Mensch wird 250 Jahre alt!”
„Dein Vater ist Wächter!”
„Wächter?”
„Wächter der Schwachstellen.”
„Mein Vater ist Professor für Monsterkunde an der Universität in Edinburgh.”
„Ist doch ideal. Wenn mal etwas durch eine Schwachstelle gelangt, kann er Beweise verschwinden lassen oder Zeugen so wirken lassen, als hätten sie Hirngespinste.”
„Ich kann‘s nicht glauben”, sagte Bryanna. „Ich hätte doch etwas davon merken müssen.”
„Er hat zweihundert Jahre Übung darin, niemanden etwas merken zu lassen. Wahrscheinlich ist ihm die Heimlichtuerei so in Fleisch und Blut übergegangen, dass er gar nicht daran gedacht hat, es dir zu erklären.” Kaylee drehte sich wieder um und ging weiter. „Jetzt komm, wir müssen weiter.”
Bryanna folgte ihr. Ihre Gedanken kreisten um ihren Vater, der ihr mit einem Mal fremd und unheimlich geworden war. War seine tollpatschige Art, seine Begeisterung für abwegige Legenden und unheimliche Lebewesen wirklich nur gespielt? Je länger sie nachdachte, desto klarer wurde ihr, dass Kaylee Recht haben musste. Welchen Grund sollte sie haben, so etwas zu erfinden. Wenn Vater jederzeit für Schottland da sein musste, würde es erklären, warum wir im Urlaub nie ins Ausland gefahren sind. Es würde auch alle meine merkwürdigen Kindheitsfreunde erklären. Bryanna dachte an die seltsame Ansprache ihres Vaters an ihren unsichtbaren Freund und ihr wurde klar, was sie zu bedeuten hatte. Er konnte den Hobgoblin sehen. Er wusste, dass es ihn nicht nur in meiner Fantasie gab. Er hat alle meine Freunde aus Alba davongejagt, ohne auf meine Gefühle Rücksicht zu nehmen . Mit einem Mal kam ihr ein schrecklicher Gedanke. Was ist, wenn er auch für Mutters Verschwinden verantwortlich ist? Habe ich ein gefühlloses Monster zum Vater?
Bryanna erinnerte sich an die vielen Nächte, in denen sie von ihrem Vater in den Schlaf gesungen worden war, an die Tränen in seinen Augenwimpern, als ihre Mutter verschwunden war und an den Stolz, mit der er sie nach ihrem ersten Schultag am Bus abgeholt hatte. Dass Vater Wächter der Schwachstellen ist, kann ich glauben. Aber im Herzen ist er der Vater, den ich schon immer kannte. Und für das Vertreiben meiner Freunde hatte er sicher einen guten Grund . Bryanna blinzelte eine Träne fort. Sie vermisste Hob noch immer. Ich muss Vater unbedingt finden, damit er mir alles erklären kann. Sie sah auf und merkte, dass ihr Kaylee ein Stück voraus war. Sie ging schneller.
Um auf andere Gedanken zu kommen, sah sie sich die Landschaft genauer an, durch die sie gingen. Der sandige Weg schlängelte sich in engen Kurven Berge hinauf und wieder hinunter. Überall gab es Heideflächen, ausgedehnte Moore und große Wälder, aber geteerte Straßen suchte Bryanna vergeblich. Hin und wieder klang aus den Tälern das Trillern einer Weidenflöte und dann konnte sie durch die Bäume oft eine Herde mit einem Kind als Hirten sehen. Gelegentlich sah sie auch eines der mit Torf gedeckten, niedrigen Häuser oder ein kleines Dorf, doch ihr Weg führte sie stets in einem Bogen an den Siedlungen vorbei.
Weitere Kostenlose Bücher