Schottlands Wächter (German Edition)
Die meiste Zeit wanderten sie durch Wälder. Sie durchquerten dichte Nadelwälder, durch die nur ein schmaler Pfad führte, lichte Hallen mit dicken Buchen, unter denen kaum etwas wuchs, und offene Wälder mit weit auseinander stehenden Birken und Kiefern. Bryanna hatte gar nicht geahnt, dass es so viele verschiedene Arten von Wald gab. Überhaupt war Alba anscheinend viel stärker bewaldet als Schottland. Bryanna genoss das Rascheln des Laubs an ihren Füßen und das Zwitschern der Vögel in den Bäumen. Auch Kaylee schwieg.
Gegen Mittag erreichten die Mädchen eine Bergkuppe, die einen großartigen Ausblick auf die Täler vor ihnen bot. Sie beschlossen, dort zu rasten und packten ihre Tonschalen aus, die sich sofort mit Suppe füllten. Dann machten sie es sich bequem und aßen. Ein Mann stieg mit gesenktem Kopf denselben Weg hinauf, den sie gekommen waren. Er kam Bryanna merkwürdig bekannt vor, aber sie kam nicht darauf woher sie ihn kannte. Er ging gebeugt, als trüge er eine schwere Last. Erst als er sie erreicht hatte, hob er den Blick. Bryannas Herz flog ihm entgegen. Seine dunklen Augen wirkten traurig und gehetzt.
„Möge euer Weg friedvoll sein”, sagte er mit leiser, tiefer Stimme. Ein Name stieg in Bryanna auf. Es war der letzte Name, den ihr Bride gegeben hatte und der einzige, der nicht ewig nachklang. Er drängte sich so sehr in ihr Bewusstsein, dass sie ihn aussprach.
„Stuart MacPherson?”
Der Mann nickte und seine grauen Locken wippten. „Alle nennen mich den Seannachaidh.”
„Wie ein Geschichtenerzähler sehen Sie gar nicht aus”, sagte Bryanna.
Kaylee mischte sich ein. „Er ist der letzte wahre Seannachaidh, Bewahrer von Geschichte und Geschichten, Rechten und Traditionen.” Sie deutete auf einen Steinbrocken, der zum Sitzen einlud. „Setzt Euch zu uns und seid uns willkommen, Seannachaidh. Gern teilen wir unser Brot mit Euch.”
Der Seannachaidh setzte sich und die Mädchen reichten ihm von ihrer Suppe und teilten ihr Brot mit ihm.
„Ich werde nur kurz verweilen, Lassies”, sagte er, nahm aber das angebotene Essen dankend an. Bryanna liebte das schottische Wort für Mädchen. In Edinburgh hörte sie es nur noch selten. Sie lächelte den Seannachaidh an, als er ihre Hand nahm.
„Ich soll dir etwas von deinem Vater geben.”
„Von meinem Vater? Kennen Sie ihn?”
„Ich lernte deinen Vater vor etwas mehr als zweihundert Jahren kennen. Er war, wie du, auf der Suche nach jemandem, der ihm lieb war.”
Kaylees Augen leuchteten auf. „Bitte Seannachaidh, erzählt uns diese Geschichte. Ich habe sie noch nie gehört.”
„Es gibt nur wenige, die sie kennen. Aber euch erzähle ich sie gerne. Sie ist ein Grund, warum ich hier bin.” Er lächelte Bryanna an. „Der Bruder deines Vaters, Bryanna, hatte schon als Kleinkind die Gabe des zweiten Gesichts. Nach dem Tode der Eltern gab ihn dein Vater bei Aidan, dem größten Magier des Landes, in die Lehre. Er ahnte nicht, dass dieser Magier der derzeitige Wächter Schottlands und Albas war. Er ahnte nicht einmal, dass es mehr als die ihm vertraute Welt gab. Doch er glaubte Aidans Beteuerungen, dass dieser seinen Lehrling eines Tages in all seine Geheimnisse einweihen würde.
Die beiden Brüder liebten einander sehr. Daher litt dein Vater unerträgliche Qual, als sein Bruder lange Zeit nicht zu Besuch kam, ja nicht einmal eine kurze Nachricht schickte. Über Jahr und Tag beschloss er, ihn zu suchen.
Monatelang durchwanderte er Schottland, bis ihn seine Füße kaum noch trugen. Er überquerte das Wasser, um alle Inseln abzusuchen und er lernte fliegen, um die Vögel im Himmel zu befragen. Es war die Zeit in der er deine Mutter kennenlernte, und auch ich hatte die Ehre einige Zeit mit ihm reisen zu dürfen.”
„Und? Fand er meinen Onkel?”
Der Seannachaidh nickte. „Als deine Mutter und er seinen Bruder endlich fanden, lag dieser bewegungslos auf dem Rücken, umgeben von einer durchscheinend blauen Feuerwolke. Dein Vater glaubte, dass das Feuer das Leben seines Bruders bedrohte und dass es einem mächtigen, feindlichen Zauberer gehorchen musste, denn er hatte noch nie ein Feuer dieser Farbe gesehen.
Aus Sorge um deinen Onkel und mit einem Gebet an Bride auf den Lippen, wagten sich deine Eltern durch die Flammen. Im Herzen des Feuers angekommen eilte dein Vater zu seinem Bruder. Erleichtert sah er Aidan neben dem Reglosen knien. Dein Vater rannte auf Aidan zu und rief: „Welch Glück, dass Ihr da seid, Meister.”
Da sprang
Weitere Kostenlose Bücher