Schreckensbleich
nicht viel älter als fünf oder sechs, reichte ihrem Vater fast bis zur Taille. Unten an der Rampe war eine andere Familie zugange, der Vater ließ den Bootswagen herunter, und zwei halbwüchsige Jungen zogen das Boot heran, bis der Rumpf sich quietschend über die mit Teppich gepolsterten Auflageflächen schob. Hunt saß da und sah ihnen eine Weile zu. Er machte das Cockpit sauber und überprüfte die Zulassung. Ein Mann kam an der Familie auf der Rampe vorbei und scherzte mit dem Vater, dann kam er den Steg entlang, nachdem er Hunt erblickt hatte.
Aus der Tasche des Mannes hörte Hunt das Brummen eines klingelnden Handys. Der Mann schien nachzudenken; er hielt inne und erwog, den Anruf anzunehmen, entschied sich dann dagegen und ging weiter über den Steg, als hätten er und Hunt eine Verabredung, die es einzuhalten galt. Er hatte einen kleinen Koffer in der Hand, der beim Gehen pendelte und rhythmisch gegen seinen Oberschenkel schlug. Das Ding erinnerte Hunt an einen großen Kasten für Billardqueues, viereckig, mit einem Reißverschluss und einem Griff in der Mitte.
»Kann ich Sie mal was fragen?«, sagte der Mann. Er war jetzt auf einer Höhe mit Hunt, schaute vom Steg auf ihn herunter. »Wie weit kommt man in so einem Ding? Ist ein echt schönes Boot. So eins hätte ich irgendwann auch gern mal.«
Hunt blickte vom Bug aus, wo er stand und ein Tau aufrollte, zu ihm auf. Der Mann war sehr blass, mit einem blonden, fast weißen Schnurrbart, und obwohl seine Augen blau waren, sah die Haut darum herum dünn und dunkel aus, als käme das Blut dort sehr dicht an die Oberfläche. Irgendetwas an dem Mann war vertraut, eine flüchtige Erinnerung, zerplatzt wie eine Seifenblase, kaum dass sie sich in Hunts Verstand gebildet hatte.
»Hey«, meinte der Mann, »waren Sie nicht vor ein paar Jahren in Monroe?«
Hunt sah ihn mit unbewegter Miene an. »Ich war da.«
»Erinnern Sie sich an mich?«
»Kann ich nicht behaupten.« Er wollte nicht darüber reden, es war ihm egal. Er hatte ein paar Freunde aus seiner Zeit in Monroe, ein paar Freunde oben im Norden, bei denen er Drogen bunkerte, ein Schlafplatz auf langen Reisen. Er wollte keine neuen Freundschaften schließen. Brauchte keine neuen Freunde.
Der Mann streckte die Hand aus. »Grady Fisher. Wir haben ein Jahr zusammen gesessen. Danach habe ich Sie nicht mehr gesehen. Sind wohl entlassen worden. Sieht ja aus, als ging’s Ihnen nicht gerade schlecht.«
Hunt blickte zu ihm empor. Er nannte weder seinen Namen, noch bot er dem anderen seine Hand. »Leiten Sie eine Frage immer so ein?«
»Wie denn?«
»Indem Sie fragen ›Kann ich Sie mal was fragen?‹?«
»Ich wollte nicht unhöflich sein.« Grady schloss die Hand zur Faust und ließ sie sinken.
Hunt sah ihn unverwandt an. »Dieses Boot bringt mich so ziemlich überallhin, wenn die Tanks voll sind.«
»Tut mir leid, wenn ich gestört habe.«
Hunt sagte nichts. Er rollte das Tau fertig auf und verstaute es in einem niedrigen Schapp.
»Ich bin Koch«, verkündete Grady. Er klopfte mit der freien Hand auf den Koffer und lächelte, als hätte Hunt ihn gefragt, wofür der da sei. »Ich habe mich gefragt, ob Sie vielleicht zum Fischen fahren?«
Er hatte eine komische Art zu sprechen, manchmal ganz langsam, fast stotternd, eher neugierig und melancholisch als irgendetwas anderes. Hunt dachte darüber nach. Dieser Mann würde nicht weggehen; er stand einfach da und beobachtete ihn. »Was ist in dem Koffer?«, fragte Hunt.
»Ach, das«, sagte der andere, als hätte er gerade erst wieder gemerkt, dass er ihn in der Hand hielt. »Das sind meine Messer.« Hunt warf ihm abermals einen raschen Blick zu. Er war bereit zum Ablegen, doch die Vorstellung, dass ein Mann am helllichten Tag Messer mit sich herumschleppte, interessierte ihn. Es schien vollkommen vernünftig zu sein, wenn er recht darüber nachdachte. Wahrscheinlich war er sein Leben lang jeden Tag an einem Koch vorbeigekommen, der eine Messersammlung dabeihatte. »Ich zeig sie Ihnen mal.« Grady stellte den Koffer auf den Steg und zog den Reißverschluss auf. »Ich sammle schon seit Jahren Messer.«
Die einzigen beiden Gegenstände, die Hunt identifizieren konnte, waren eine Metallsäge und ein großes Kochmesser – er schätzte die Klinge auf dreißig Zentimeter. »Sehen ja toll aus«, bemerkte er. Der Mann lächelte und gab ein kleines Kichern von sich. Dann klappte er die Seiten auseinander, bis sie als zwei Hälften auf dem Steg lagen und die Messer ganz
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