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Schreckensbleich

Schreckensbleich

Titel: Schreckensbleich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Urban Waite
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hinter der Glasscheibe hoch, damit Hunt sie sehen konnte. Sie schrieben ihm Briefe von exotischen Orten, und Hunt lag auf seiner Pritsche und roch an dem Papier. Er strich mit den Fingern über den Umschlag und betrachtete die Briefmarke; er wusste gern, wo etwas gewesen war. Er wollte sehen, dass es einen Ort und ein Datum aufwies und dass es diese lange Entfernung zu ihm zurückgelegt hatte.
    Der letzte Brief, den er mit Klebeband an die Wand seiner Zelle geklebt hatte, stammte aus den frühen Achtzigern. Was sollten sie ihm denn noch sagen: Pech gehabt, hoffentlich läuft’s beim nächsten Mal besser? Es gab nichts zu sagen über das, was er getan hatte, nichts, das es für ihn jemals besser machen würde. Das fühlte er, wenn er nachts in seiner Zelle lag und die Seiten des Briefes dort an der Wand schwebten. Er fühlte jene Einsamkeit des Verschwindens, des Vergehens. Der Brief hing ein Jahr dort, ehe er ihn abnahm.
    Der Trainer aus der High School hatte ihn einmal besucht; er war nicht so angezogen, wie Hunt ihn in Erinnerung hatte, sondern trug einfache Jeans und ein gestreiftes Polohemd. Es machte Hunt traurig, ihn so zu sehen. Den Ausdruck zu sehen, der über sein Gesicht huschte. Nichts erfüllte Hunt mehr mit Verzweiflung, als einen Schatten des Mitleids über die Züge eines anderen zucken zu sehen. Das hatte ihm fast den Rest gegeben. Das hatte ihn fast umgebracht. Hatte ihn gründlicher fertiggemacht, als irgendjemand ihn je mit den Fäusten hätte fertigmachen können. Der Stolz war ein Massenmörder im Knast, und in vielen Nächten, wenn die Männer in ihren Zellen allein waren, holte er sich, wen er kriegen konnte.
    Seine Mutter schrieb ihm Briefe, weil sie ihn nicht besuchen konnte. Sie versuchte es mehrmals, aber jedes Mal, wenn sie kam, weinte sie, und er konnte nichts tun, außer dasitzen und ihren Schmerz mit ansehen. Zu wissen, dass er diesen Schmerz verursacht hatte und dass er nichts dagegen tun konnte, dass es keinen Trost und keine Hilfe gab, die er ihr bieten konnte, war von allem, was er ertrug, am schlimmsten.
    ***
    »Warum bist du immer noch hier, Eddie?«
    Eddie betrachtete Nora. Sie war gerade zurückgekommen, nachdem sie Bobby Drake verabschiedet hatte.
    »Was machst du da eigentlich, Nora? Führungen für Wildfremde?«
    »Das war doch nur ein Junge, der Reitunterricht haben wollte.«
    »Der könnte alles Mögliche sein.«
    »Dieser Typ?«
    Eddie ging zum Fenster, schob mit einem Finger die Rollos zur Seite und spähte in den Vorgarten hinaus. »Ja, Nora, dieser Typ.«
    Nora ging in die Küche, und er konnte hören, wie sie am Hahn ein Glas mit Wasser füllte. Als sie wieder ins Zimmer kam, stand er noch immer am Fenster. »Warum bist du immer noch hier, Eddie?«
    »Ich passe auf dich auf«, erwiderte er. »Ich passe auf Hunt auf.«
    »Muss man denn auf uns aufpassen?« Nora ging zum Tisch hinüber und setzte sich. Sie wich Eddies Blick aus.
    Eddie sagte nichts. Er überlegte, ob er gehen sollte. Ob er jetzt einfach abhauen sollte, ob er die beiden im Stich lassen konnte, wie er den Jungen im Stich gelassen hatte, als der in einer Zelle darauf wartete, dass ihm jemand den Schädel einschlug. Eddie konnte es nicht. Zumindest Nora konnte er das nicht antun. Er konnte sie nicht im Stich lassen. Alles, was sie getan hatte, um hier mit drinzustecken, war, Hunt zu lieben. Eddie konnte sie doch für so etwas nicht bestrafen. Es würde noch genug Strafen geben.
    »Hast du je darüber nachgedacht, was passieren würde, wenn du dein Augenlicht verlierst?«, fragte er. Es hatte eigentlich gar nicht drohend klingen sollen, hörte sich aber doch so an, als würde er genau das tun. »Du weißt schon, was ich meine, blind werden. Hast du je darüber nachgedacht?«
    »Scheint mir keine sehr nette Frage zu sein.«
    »Ist auch keine.«
    »Keine Frage, oder nicht nett?«
    »Keine Frage. Vergiss es, Nora, ich denke bloß laut.«
    »Na ja, also dann, nein. Nein, das würde sich wohl nicht sehr schön anfühlen.«
    »Was ich sagen will, ist, genauso fühle ich mich. Als wäre ich blind geworden, und ich hab alles dabei, mit dem ich da eingestiegen bin, aber ich kann die Wände nicht sehen, und ich strecke die Hände aus, um sie zu berühren, und taste mich weiter. So fühle ich mich. Genau das machen wir, die Wände abtasten, und das gefällt mir nicht, aber es ist das Beste für uns, für dich und mich und Hunt. Die beste Möglichkeit, um weiterzumachen, und die einzige Möglichkeit, wie wir jemals den

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