Schrei Aus Der Ferne
Applikationen von Schmetterlingen und Blumen an den Beinen sah, die sie an dem bewussten Tag bei H&M in Cambridge gekauft hatten. Ruth hatte sie ihr unbedingt ausreden wollen. Und dann das Bindetop – es war teuer gewesen, aber wenigstens wusste Ruth, dass es nicht auseinanderfallen würde.
Ihre Tochter stand vorm Spiegel und bürstete sich das Haar.
»Beatrice.«
Das Wort schien in der Luft zu zerbrechen.
»Mummy!« Heather lächelte, als sie sich umdrehte, und streckte ihr die Arme entgegen. »Ich dachte, ich probier malein paar von Beatrices Sachen an. Sie sind mir natürlich ein bisschen zu klein, aber das ist ja egal. Und dann hab ich versucht, mir die gleiche Frisur zu machen wie sie. Siehst du?«
Ruth konnte vor lauter Tränen gar nichts sehen.
»Wein doch nicht.« Heather nahm ihre Hand. Ihre Finger waren warm, wärmer als Ruths eigene. »Du weißt, dass ich das nicht mag.«
Ruth rieb sich mit einem Taschentuch über die Augen.
»Das ist besser.« Noch einmal breitete sie die Arme aus. »Du kannst mich ruhig in den Arm nehmen. Ich breche nicht auseinander.«
Ruth konnte die Knochen unter dem Fleisch fühlen und hielt ihre Tochter umarmt, obwohl sie immer noch Angst hatte, sie zu fest zu drücken. Heathers Atem schlug warm an ihren Hals, ihre Lippen lagen warm und etwas feucht auf ihrer Wange. Ein schneller Kuss, dann wich sie zurück.
»Hast du Beatrice gesehen?«, fragte Ruth. »Bestimmt hast du sie gesehen. Kannst du mir sagen, wo sie ist?«
Heather lächelte flüchtig und traurig.
»Frag nicht«, sagte sie. »Du darfst nicht fragen. Das weißt du doch.«
»Aber Heather …«
Da war niemand. Ordentlich zusammengelegt lagen die Kleidungsstücke am Fußende des Bettes, die Bürste auf dem kleinen Toilettentisch. Ruth spürte noch den Atem ihrer Tochter auf der Haut.
Wein doch nicht. Du weißt, dass ich das nicht mag
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53
Kurz vor der Morgendämmerung schlugen sie zu. Will Grayson und Ellie Chapin mit einer Verstärkung von einem Dutzend Beamten im Haus der Hendersons, Detective Sergeant Jim Straley und sechs andere im Jachthafen. Lyle Henderson, zornentbrannt in einem blau-golden gestreiften Schlafanzug, schrie und drohte mit der Faust; seine Frau Catriona rannte die Treppe erst nach unten, dann nach oben, wobei ihr weites Nachthemd flatterte und stramme Waden und rundliche Oberschenkel enthüllte.
»Sie haben kein Recht dazu«, polterte Henderson. »Nicht das geringste.«
Will wedelte mit dem Durchsuchungsbeschluss in seine Richtung und machte weiter. In jedem Zimmer des Hauses wurden Türen aufgerissen, Schränke untersucht, der Inhalt von Schubladen auf Betten oder auf den Boden ausgeleert.
»Da oben ist ein Zimmer, Sir«, sagte einer der Beamten. »Nach hinten raus. Es ist verschlossen.«
Henderson und seine Frau waren in der Küche; Catriona hatte sich inzwischen einen Bademantel übergezogen; keiner wollte dem anderen in die Augen sehen.
»Den Schlüssel«, sagte Will und streckte die Hand aus.
»Was? Welchen Schlüssel?«
»Für den hinteren Raum, oben. Wir brauchen Zugang.«
»Nicht nötig. Das Zimmer wird so gut wie nie benutzt. Deshalb ist es ja abgeschlossen.«
»Den Schlüssel«, wiederholte Will.
»Ich hab Ihnen doch gesagt, da ist nichts. Ein bisschen Krempel, das ist alles. Alte Geschäftsunterlagen. Akten.«
Will streckte immer noch die Hand aus.
Henderson seufzte und machte einen Schritt zurück. »Der Schlüssel ist im vorderen Zimmer, im Sekretär.«
»Bitte zeigen Sie dem Beamten genau, wo er liegt.«
Am Küchenfenster hatte Catriona die Hände in den Taschen ihres Bademantels vergraben und starrte auf die ersten Anzeichen von Tageslicht, das sich unten am Himmel gelb und silbergrau zu zeigen begann.
»Es tut mir leid«, sagte Will.
Sie antwortete mit einem kurzen geringschätzigen Kopfnicken. Das war alles.
In dem Zimmer im oberen Stockwerk befanden sich zwei Bücherregale, ein Schreibtisch und ein Bürostuhl, ein hoher Aktenschrank, einige aufeinandergestapelte Koffer in verschiedenen Größen, ein schmaler Schrank, der bis auf eine Angelrute, einen Tennisschläger und mehrere Paar alter Golfschuhe leer war. An der hinteren Wand stapelten sich planlos Zeitschriften.
Auf dem Schreibtisch standen ein Computer und ein Laserdrucker, in einer der Schreibtischschubladen lag eine tragbare Festplatte.
»Ist das der einzige Computer im Haus?«, fragte Will.
Henderson schüttelte den Kopf. »Catriona hat einen Laptop.«
»Sorgen Sie dafür, dass die
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