Schrei Aus Der Ferne
mich wäre das nichts, dieses Kleinstadtleben, wo alle wissen, wer Sie sind und was Sie tun. Cambridge ist gerade groß genug, und man kann meistens unterhalb des Radars bleiben.«
»Und insgeheim über die Stränge schlagen.«
»Wenn Sie so wollen.«
Ein Mann in einem dunkelblauen Rollkragenpullover und einer blauen Hose – in Helens Augen ein total maritimer Aufzug – kam an ihren Tisch, nickte kurz in ihre Richtung, beugte sich zu Cordon hinunter und begann leise ein Gespräch, von dem sie nur gelegentlich ein Wort mitbekam.
Ihr Begleiter widmete dem Mann seine ganze Aufmerksamkeit, sodass Helen nur Cordons Profil sah: eckige Wangenknochen in einem hageren Gesicht, braune Augen gesprenkelt mit Grün – konnte das sein? –, eine Nase, die mindestens einmal gebrochen worden war, als er jünger war.
Wie alt war er jetzt? Anfang fünfzig? Er war sicher schondie erforderlichen dreißig Jahre bei der Polizei und könnte in Pension gehen. Aber was sollte er dann tun?
Der Mann, der ihn angesprochen hatte, drückte Cordons Schulter und ging zurück zur Bar.
»Und um was für ein Verbrechen ging es jetzt?«, fragte Helen.
Ein Lächeln erschien auf Cordons Gesicht. »Die Fischpreise.«
Sie wusste nicht, ob sie ihm glauben sollte. Eher nicht.
Zu Helens Bestürzung schlug Cordon ein indisches Restaurant vor. Von dem Pub war es nur ein kurzer Fußweg durch eine enge Seitenstraße der Promenade. Aber im Inneren gab es zum Glück keinerlei Velourstapete, die Bedienung war aufmerksam, ohne schmierigen Charme zu versprühen, und das Essen – nun, das Essen war viel besser, als sie erwartet hatte, besonders die Tandoori-Garnelen. Auf der Weinkarte gab es sogar einen mehr als anständigen Côtes du Rhône, der nicht die Welt kostete.
»Also«, sagte Cordon, riss ein Stückchen Nan ab und tunkte es in die Pfeffer-Koriander-Sauce auf seinem Teller. »Wollen Sie sich nun die Mühe machen und Alan Efford aufsuchen oder nicht?«
Sie hatten bereits über die Möglichkeit gesprochen, dass Helen ihre Fahrkarte umtauschen und ihre Reise in London unterbrechen würde, um die Gelegenheit zu nutzen, mit Efford über die Ereignisse vor dreizehn Jahren zu sprechen, wie er sie erinnerte.
»Vielleicht ist es keine schlechte Idee.«
»Er wird Ihnen nicht allzu viel erzählen, was Sie nicht schon wissen, denn inzwischen haben Sie ja die Protokolle durchgelesen.«
»Wahrscheinlich nicht.«
Sie goss noch etwas Wein in beide Gläser. Wenn sie ihn stehen ließen, würde er doch nur weggegossen.
»Ich habe den Eindruck, dass Sie ihn sowieso nie richtig verdächtigt haben«, sagte Helen.
»Efford. Nein, eigentlich nicht. Wir haben ihn natürlich in Betracht gezogen – zwangsläufig. Aber von allem anderen mal abgesehen, war nicht viel zu holen, was die Gelegenheit zur Tat betrifft.«
»Gibbens zufolge befand sich wenigstens eine Person im Umkreis des Ortes, wo die Mädchen sich verlaufen haben. Er hat gehört, wie jemand gerufen hat.«
»Ich weiß. Efford hat ja auch angegeben, auf den Küstenpfad gegangen zu sein, als ihm klar wurde, dass der Junge ohne die beiden Mädchen zurückgekommen war.«
»Und wie hat der Junge reagiert?«
»Lee? Der schlich wie ein geprügelter Hund mit gesenktem Kopf und eingezogenem Schwanz durch die Gegend. Hatte ein verdammt schlechtes Gewissen, weil er die beiden allein gelassen hatte. Das war ganz klar.«
Cordon entschied sich für gebackene Bananen mit Eis, aber Helen verzichtete.
»Möchten Sie einen Brandy oder so was?«, fragte er.
»Um Gottes willen, nein!«
Als sie draußen vor dem Restaurant standen, schlug ihnen die Luft kalt entgegen, und ein beinahe perfekter Halbmond stand hoch über der Bucht. Paare saßen aneinandergeschmiegt auf den Bänken, die in regelmäßigen Abständen auf der Promenade standen; ein Stück weiter weg sah man den Umriss eines Mannes, dessen Zigarette hell aufleuchtete und der sorgfältig zwei ins Meer ausgeworfene Angelschnüre überwachte.
»Kommen Sie«, sagte Cordon. »Es ist eine schöne Nacht. Wir können laufen.«
»Wohin?«
Ein paar hundert Meter weiter fiel der Weg ab und verlief direkt am Ufer, und das einzige Geräusch, das sie jetzt hörten, war das leise Knirschen der Kieselsteine, die rhythmisch zurückrollten, wenn die einsetzende Flut sie freigab. Die Lichter von Newlyn erschienen im Halbkreis vor ihnen, erhoben sich eines über dem anderen bis zu dem Punkt, wo Land und Himmel aufeinanderstießen.
Helen blieb stehen,
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