Schrei Aus Der Ferne
an, und seine Augen waren glänzend und groß.
»Wirklich erbärmlich. Das denken Sie jetzt. Erbärmlich und ein bisschen traurig. Aber das ist auch schon alles. Man liest davon, es gibt jede Menge Beispiele, es ist nicht ungewöhnlich. Für Menschen in meiner Situation. Die Kinder verloren haben. Übertragung nennt man das. Solche Menschen übertragen ihre Gefühle auf jemand anderen. Bei mir war es wohl Beatrice.«
»Erzählen Sie mir von dem Pulli«, sagte Will.
»Kann ich etwas zu trinken haben? Wasser?«
»Sobald Sie es mir erzählt haben.«
Der Anwalt machte eine Bewegung, als wollte er eingreifen, aber ein kurzer Blick von Will hielt ihn davon ab.
»In Ordnung«, sagte Pierce blinzelnd. »Als ich … als klar wurde, dass ich ihn nicht zurückschicken würde – es war viel zu lange her –, wollte ich ihn verbrennen, aber ich brachte es nicht über mich, und deshalb habe ich ihn zusammen mit einer Menge anderer alter Sachen in eine Ecke im Hühnerstall gestopft und dann habe ich ihn vergessen.«
»Vergessen?«
»Ja. Mehr oder weniger, ja.«
»Aber als Sie gelesen haben, dass Beatrice verschwunden war, oder es im Fernsehen gesehen haben, wie auch immer, muss Ihnen doch klar geworden sein, dass die Polizei zu Ihnen kommen und ihn vielleicht finden würde.«
»Nein, warum denn? Ich habe doch gar nichts mit der Sache zu tun.«
»Sie haben die Fotos geschickt. Das haben Sie damit zu tun.«
»Jemand anders hat sie für mich geschickt.«
»Auf Ihr Betreiben hin.«
»Ja.«
»Wer ist diese Person?«
»Ein Freund.«
»Ein Freund aus dem Internet?«
»Ja.«
»Und sein Name?«
»Den kenne ich nicht. Seinen richtigen Namen, meine ich. Er nennt sich Don, aber das ist nicht sein richtiger Name, sicher nicht. Das Schöne an solchen Seiten ist, dass die Privatsphäre geschützt wird. Sie können sagen, was Sie wirklich empfinden, ohne dass irgendjemand erfährt, wer Sie sind.«
»Also, wo wohnt er? Dieser Don?«
»Ich weiß es nicht. Es könnte überall sein. Im Ausland oder am anderen Ende der Straße.«
Will schob einen Schreibblock und einen Stift zu ihm hinüber. »Schreiben Sie die Daten auf.«
»Sie sind alle auf meinem Computer.«
»Schreiben Sie sie auf.«
Pierce sah zu seinem Anwalt, der ihm zunickte, und begann zu schreiben.
Will und Matthew Oliver standen draußen am Rand des Parkplatzes hinter dem Gebäude. Oliver rauchte eine Zigarette. Ein leichter Regen hatte eingesetzt und ließ die Autodächer feucht werden.
»Da sich mein Mandant sehr kooperativ verhalten hat, können Sie ihn jetzt ja gehen lassen.«
»Im Gegenteil, ich werde beantragen, ihn weitere zwölf Stunden festhalten zu dürfen.«
»Mit welcher Begründung?«
»Ich habe Grund zu der Annahme, dass er entweder in Beatrice Lawsons Verschwinden verwickelt ist oder weiß, wer damit zu tun hat.«
»Das fällt in sich zusammen. Funktioniert nicht.«
»Ach nein? Er hat doch selbst zugegeben, dass er sie wochenlang verfolgt hat. Monatelang. Dass er heimlich Fotos von ihr gemacht und eines ihrer Kleidungsstücke gestohlen hat. Und Sie erwarten von uns, dass wir glauben, es habe sich nur um ein völlig harmloses Beispiel von – wie hat er das genannt? – von Übertragung gehandelt? Etwas, das er überwunden und hinter sich gelassen hat? Kommen Sie, Matthew, Sie müssten es doch besser wissen. Und jetzt sollten wir wieder reingehen. Es regnet.«
Wegen einer Massenkarambolage auf der A46 zwischen Cambridge und Newmarket – zwei Familien, darunter auch kleine Kinder, mussten aus ihren Autowracks herausgeschnitten werden, eine Person war buchstäblich geköpft worden – war die Pressekonferenz weniger gut besucht als die vorherigen. Wenn es nicht bald neue Entwicklungen gab, würde die Geschichte voraussichtlich auf dem unteren Teil von Seite fünf landen und zur Kurzmeldung in den Fernsehnachrichten werden, irgendwo eingequetscht zwischen komischen Begebenheiten und Sport.
Will brachte seine Mitteilung so präzise wie möglich vor und wartete auf Fragen.
Die Polizei hatte es offenbar für notwendig gehalten, eine weitere Zeitspanne für die Vernehmung zu beantragen. Hieß das, dass eine Anklage unmittelbar bevorstand?
Nein, das hieß es nicht.
Gewiss war es doch im öffentlichen Interesse, den Namen des Mannes zu nennen, der festgehalten wurde?
Nein, das war es nicht.
Bedeutete die Tatsache, dass sie einen Verdächtigen im Zusammenhang mit dem Verschwinden der kleinen Beatrice hatten, dass sie
Weitere Kostenlose Bücher